Sicherheitslage Konflikte in vielen Landesteilen
Binnenvertriebene in der ostnigerianischen Stadt Yola, die vor Boko Haram geflohen sind
Häufig werden soziale und wirtschaftliche Konflikte ethnisch oder religiös instrumentalisiert. In Nigeria leben mehr als 250 ethnische Gruppen, der Norden des Landes ist vorwiegend muslimisch, der Süden stärker christlich geprägt. Die gesamtgesellschaftliche Stabilität ist allerdings vielfach herausgefordert, unter anderem durch erhebliche gesellschaftliche Unterschiede zwischen extremem Reichtum (Wirtschaftszentren, Süden des Landes) und bitterer Armut (auf dem Land, im Norden des Landes) sowie der Zunahme von Extremwetterereignissen.
Die Sicherheitslage – bedingt durch Terrorismus und organisierte Bandenkriminalität – verschlechtert sich seit 2020 kontinuierlich landesweit. Die Zahl der terroristischen Angriffe durch „Boko Haram“ sinkt zwar seit 2016. Unter der Führung des „Islamischer Staat Provinz Westafrika“ (Islamic State's West Africa Province, ISWAP) haben sich seit 2021 auch die Taktiken gewandelt: Die Bewegung greift nun wieder stärker staatliche Ziele an, insbesondere Militärbasen, wohingegen die Zivilbevölkerung verschont wird. Der Großteil der jüngsten Gewalt (2022) entspringt aber internen Machtkämpfen zwischen verfeindeten Fraktionen.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bezifferte die Zahl der nigerianischen Binnenvertriebenen im Juli 2023 auf knapp 3,38 Millionen Menschen. Rund 320.000 Nigerianerinnen und Nigerianer haben in den Nachbarländern Schutz gesucht. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) werden 2023 rund 8,3 Millionen Menschen in den nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe auf humanitäre Hilfe angewiesen sein.
Kampf um Ressourcen
Regional ausgeweitet haben sich Konflikte zwischen Hirten und Bauern in Zentralnigeria. Die Wanderhirten ziehen traditionell vom Norden des Landes in Richtung Süden, um ihre Rinder weiden zu lassen und Fleisch in die Schlachthöfe des Südens zu bringen. Die früheren Weidekorridore gibt es jedoch nicht mehr – das Land ist inzwischen entweder bebaut oder wird landwirtschaftlich genutzt.
Der Streit um Land und Ressourcen könnte zu einer ethno-religiösen Spaltung der Gesellschaft führen, da muslimische Hirten vorwiegend christlichen Farmern gegenüberstehen. Die fortschreitende Wüstenbildung in Nordnigeria, das starke Bevölkerungswachstum und die angespannte wirtschaftliche Lage tragen zur Verschärfung des Konflikts bei. Dazu zählen die extreme Ungleichverteilung der Einkommen, die geringe Entwicklungsorientierung der Politik und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit der Jugend.
Hohes Eskalationspotenzial
Als kritisch für die allgemeine Sicherheitslage bewerten Experten die Bandenkriminalität (Viehdiebstähle, Überfälle, Entführungen) im Nordwesten des Landes. Die Banden werden zunehmend von islamistischen Organisationen unterwandert, sodass die Grenzen zwischen Kriminalität und Terrorismus immer stärker verschwimmen.
Angespannt bleibt die Lage auch in den Ölfördergebieten des Niger-Deltas. Dort kämpfen Milizen für mehr Teilhabe der Bevölkerung am Rohstoffreichtum des Landes. In den Kernstaaten des Deltas (Bayelsa, Delta, Rivers) kommt es durch politische Gewalt, bewaffnete Überfälle, Entführungen und kultische Gruppen zu rund 300 bis 400 Toten pro Jahr. Eine sicherheitspolitische Herausforderung stellt außerdem die Piraterie im Golf von Guinea dar. Die nigerianische Marine ist nur begrenzt in der Lage, Schiffe und ihre Besatzungen vor Überfällen und Entführungen zu schützen.
Ein weiterer Konfliktherd schwelt im Südosten des Landes, wo sich separatistische Gruppen für die Unabhängigkeit der Provinz Biafra einsetzen. Ähnliche Bestrebungen hatten Ende der 1960er Jahre zu einem fast drei Jahre andauernden Bürgerkrieg geführt. Im Middle Belt verschärft die verfassungsgegebene Unterscheidung zwischen „indigenen“ Gruppen und „Angesiedelten“ die Konflikte, da letztere beim Zugang zu politischen Ämtern, Bildungseinrichtungen und staatlichen Ressourcen diskriminiert werden.
Stand: 09.08.2023