Politische Situation Große Herausforderungen für Staat und Gesellschaft

Im September 2016 unterzeichnete die damalige kolumbianische Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos ein historisches Friedensabkommen mit der größten bewaffneten Guerillagruppe FARC-EP. Zwar lehnte eine knappe Mehrheit des kolumbianischen Volkes das Abkommen in einem Referendum ab. Doch ein nachverhandelter Vertrag wurde im November des Jahres von beiden Parlamentskammern angenommen. Santos erhielt 2016 den Friedensnobelpreis.

Regierungsgebäude in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá

Regierungsgebäude in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá

Regierungsgebäude in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá

Als Nachfolger von Santos wurde im Juni 2018 der Mitte-Rechts-Politiker Iván Duque zum neuen Präsidenten Kolumbiens gewählt. Während des Wahlkampfs trat er als Gegner des Friedensvertrags auf, nach seiner Wahl äußerte er sich dazu weniger kritisch. Duque konnte während seiner Amtszeit wegen fehlender stabiler Mehrheiten im Kongress kaum Gesetzesinitiativen (Wahlgesetz-, Justizreform, Korruptionsbekämpfung) durchbringen. Die Spaltung der Gesellschaft über den Friedensprozess und die erforderlichen Reformen ist während seiner Präsidentschaft bestehen geblieben. Es kam, vor allem 2021, zu teils massiven Protesten und schweren Auseinandersetzungen, bei denen Menschen ums Leben kamen.

Die Amtszeit des kolumbianischen Präsidenten ist auf vier Jahre beschränkt. Bei den turnusgemäßen Wahlen im Juni 2022 wurde der ehemalige Guerilla-Kämpfer Gustavo Petro zum ersten linken Präsidenten Kolumbiens gewählt. Er ist seit dem 7. August 2022 im Amt. Seine Vizepräsidentin Francia Márquez ist die erste Afrokolumbianerin an der Spitze des Landes.

Petro nennt die Umsetzung des Friedensvertrags als seine politische Priorität. Er setzt sich aber unter anderem auch für eine progressive Umwelt- und Klimapolitik sowie eine Verbesserung der Situation von Frauen in Kolumbien ein.

Schwieriger Prozess der Aufarbeitung

Die weitere Umsetzung des umfassenden Friedensvertrags, der auch auf die Ursachen für den bewaffneten Konflikt eingeht und Wiedergutmachung für die Opfer vorsieht, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert nicht nur den erklärten politischen Willen von Regierung und Zivilgesellschaft, sondern auch finanzielle Ressourcen in Milliardenhöhe.


Sondergerichtsbarkeit

Im Vertrag ist auch die Einrichtung einer Sondergerichtsbarkeit (Jurisdicción Especial para la Paz/JEP) für die im bewaffneten Konflikt von Rebellen und staatlichen Akteuren begangenen Straftaten vorgesehen. Diese Institution nahm ihre Arbeit Anfang 2018 auf; ihr obliegt die juristische Aufarbeitung des bewaffneten Konflikts. Sie stellt vor allem die Opfer in den Mittelpunkt und ist darauf ausgerichtet, ihren Rechten möglichst umfassende Geltung zu verschaffen. Die Sondergerichtsbarkeit geht dadurch weit über die Funktion eines rein juristischen Organs zur Aufarbeitung des bewaffneten Konflikts hinaus. Sie hat eine zentrale Bedeutung für das Gelingen des Friedensprozesses und inzwischen schon wichtige Fortschritte erreicht.

Wahrheitskommission

Eine weitere wichtige Institution im Rahmen des Friedensprozesses ist die Wahrheitskommission, die im Sommer 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Dafür hat sie mehr als 26.000 Aussagen aufgenommen und zahlreiche öffentliche Anhörungen veranstaltet. Der Bericht gibt zahlreiche Stimmen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen wieder: Opfer, soziale Organisationen, Täterinnen und Täter, Beamtinnen und Beamte, Geschäftsleute, ehemalige Präsidenten und viele mehr.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass im Laufe des langjährigen internen Konfliktes in Kolumbien etwa 450.000 Menschen ermordet wurden, fast 122.000 Kolumbianerinnen und Kolumbianer „verschwanden“, 55.770 Menschen entführt und 7,6 Millionen innerhalb des Landes vertrieben wurden. 80 Prozent der Opfer waren Zivilistinnen und Zivilisten, mehr als 17.000 Kinder wurden Opfer von Zwangsrekrutierungen, rund 6,6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche wurden illegal enteignet.

Das BMZ unterstützt beide Friedensinstitutionen bei ihrer Arbeit.

Sicherheitslage

Das weiterhin hohe Ausmaß an Gewalt, das sich unter anderem gegen Frauen und Männer, die in Gemeindevertretungen, Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften arbeiten, oder gegen Führungspersönlichkeiten („social leaders“) und Journalistinnen und Journalisten richtet, ist eine ungelöste Herausforderung für Kolumbien. Der Regierung Duque (2018 bis 2022) ist es nicht ausreichend gelungen, das nach dem FARC-Abzug entstandene Machtvakuum in den ländlichen Regionen durch den Aufbau staatlicher Strukturen zu füllen. Die neue Regierung unter Präsident Petro ist hier mit einer großen Herausforderung konfrontiert.

Ein Friedensabkommen mit der zweitgrößten Guerillagruppe ELN (Ejército de Liberación Nacional) steht überdies noch aus. Der neugewählte Präsident Petro hat sein Interesse daran bekundet, die Verhandlungen mit der ELN wieder aufzunehmen, die ELN zeigt sich zu Verhandlungen bereit.

Stand: 17.08.2022