Klimapolitik ist auch immer Entwicklungspolitik

Klimaschutz – am Kipppunkt von Natur und Zivilisation

Dieser Artikel erschien am 28. Oktober 2021 in der ZEIT als Sonderveröffentlichung im Rahmen der Reihe „Zeitfragen des Jahrhunderts“.

Diese Woche meldet die Weltwetterorganisation, dass der Anteil an Treibhausgasen in der Atmosphäre auf Rekord-Hoch ist. Selbst im Corona-Jahr 2020 stieg die CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiter an. Auch die Ergebnisse des fünften EU-Erdbeobachtungsprogramms Copernicus könnten alarmierender nicht sein: Die Arktis hat infolge des Anstiegs der Treibhausgase eine Eisfläche verloren, sechsmal so groß wie Deutschland.

Wasserknappheit und Dürre gehören zu den schwerwiegenden Folgen des Klimawandels.

Der Klimawandel ist längst Realität: extreme Unwetter und Temperaturen, Hitzewellen und Überflutungen, unter denen besonders die Menschen auf der Südhalbkugel leiden. Die UN-Klimachefin Patricia Espinosa warnt daher vor einem Scheitern der Weltklimakonferenz – der COP26 –, die am 31. Oktober in Glasgow startet. „Das katastrophale Szenario würde bedeuten, dass wir massive Flüchtlingsströme haben würden.“ Das ist alles andere als unwahrscheinlich.

Den UN zufolge steuert die Welt auf eine Erderwärmung von 2,7 Grad zu. Die Folgen wären dramatisch: Inselstaaten und küstennahe Millionenmetropolen in Südost-Asien sind von immer häufiger auftretenden Flutkatastrophen bedroht. Afrika wird gleichzeitig von riesigen Überschwemmungen und langen Hitzeperioden getroffen. Nach vielen Dürrejahren in Folge kommt derzeit auf Madagaskar die Landwirtschaft zum Erliegen. In Somalia ging die Getreideproduktion bereits um 80 Prozent zurück. Hunger, der längst überwunden schien, kommt massiv zurück.

Durch den Klimawandel haben Millionen Menschen bereits ihre Lebensgrundlagen verloren. Wenn nicht konsequent global gegengesteuert wird, könnten daraus Hunderte Millionen in den nächsten Jahren werden.

Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland
Eine Milliarde Kinder, weltweit jedes zweite Kind, lebt in Ländern, die von den Folgen des Klimawandels, zum Beispiel Überschwemmungen und Dürren, extrem betroffen sind. Und weil 24 von 33 Hochrisikogebieten in Subsahara-Afrika liegen, leidet unter dem Klimawandel eine ohnehin geschwächte Bevölkerung, besonders Kinder. Hier müssen wir handeln – und das ist auch möglich!
Christian Schneider Geschäftsführer von UNICEF Deutschland

„Der Klimawandel ist längst eine Überlebensfrage der Menschheit“, sagt Entwicklungsminister Gerd Müller. „Aber kaum ein Staat ist derzeit auf dem Weg, die Ziele des Pariser Abkommens zu erfüllen. Auch Deutschland liegt zurück. In diesem Tempo schaffen wir es nie, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.“

Deutschland steht in der Pflicht und muss seine nationalen Klimaziele deutlich ambitionierter verfolgen. Aber 98 Prozent der Treibhausgase werden außerhalb Deutschlands ausgestoßen. Deshalb sind alle G20-Staaten gefordert, ihre Klima-Hausaufgaben zu erledigen. Denn zusammen sind sie für 80 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich.

Die Hauptlast tragen hingegen die ärmsten Länder, obwohl sie bislang am wenigsten zum Klimawandel beitragen. Deswegen müssen die G20 über den nationalen Klimaschutz hinaus Verantwortung tragen und mit weltweiten Technologietransfers und Klimainvestitionen vorangehen.

Das ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern vorausschauender Klimaschutz. Denn die Bevölkerung der Entwicklungs- und Schwellenländern wächst in den nächsten Jahrzehnten um zwei Milliarden Menschen. Dort entstehen die neuen Megastädte, dort wachsen die Infrastruktur und der Energiehunger. Vorreiter in der Klimapolitik zu sein, heißt daher auch, in eine globale Energiewende zu investieren.

Estelle Herlyn, wissenschaftliche Leiterin des Kompetenzzentrums für nachhaltige Entwicklung FOM Düsseldorf
Im Zentrum der 17 SDG, die gleichzeitig erreicht werden sollen, stehen zwei große Herausforderungen, die nicht einfach Hand in Hand gehen: nachholende wirtschaftliche Entwicklung – und Umwelt- und Klimaschutz. Die gute Nachricht: Die Zielkonflikte lassen sich überwinden, zum Beispiel durch natur-basierte Lösungen wie Regenwalderhalt, Aufforstung und Bodenverbesserung. Außerdem sind Technologie und Technologietransfer Schlüssel im Sinne eines notwendigen weltweiten Umbaus des Energiesystems.
Estelle Herlyn Wissenschaftliche Leiterin des Kompetenzzentrums für nachhaltige Entwicklung FOM Düsseldorf

Gerät das Klima immer stärker aus dem bisherigen Gleichgewicht, löst das ökologische und soziale Verwerfungen aus, die das Leben von Milliarden Menschen gefährden. Was immer unternommen beziehungsweise unterlassen wird im Kampf gegen den Klimawandel (SDG 13) – es betrifft alle Nachhaltigkeitsziele: Gesundheit, Energieversorgung, die Bekämpfung von Armut und Hunger. Die Klimakrise wirkt wie ein Verstärker auf schwelende Krisen, entfacht Verteilungskämpfe und gilt als Brandbeschleuniger sozialer Risiken wie fortschreitender Ungleichheit und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.

Trotz allem wurden die Vereinbarungen für die internationale Klimafinanzierung bisher nicht eingehalten: Obwohl die Industrieländer 2009 in Kopenhagen vereinbarten, ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar für Klimaschutz in Entwicklungsländern zu investieren, fehlten 2019 noch 20 Milliarden Dollar, wie eine neue OECD-Analyse zeigt. „Vor allem Deutschland ist international vorangegangen und unterstützt den internationalen Klimaschutz mit 5,1 Milliarden Euro. Damit wurde der Beitrag zur Klimafinanzierung seit 2014 mehr als verdoppelt“, betont Minister Gerd Müller. Was fehlt sind vor allem private Mittel. Umso größer die Herausforderung, auf der Weltklimakonferenz 2021 in Glasgow dafür zu sorgen, dass diese Finanzierungslücke geschlossen wird. Denn bereits jetzt sei die schleppende Umsetzung des 100-Milliarden-Ziels eine „tiefe Quelle der Frustration“ für Entwicklungsländer, so der COP-Präsident Alok Sharma.

Parallel muss jedes Land seine nationalen Klimaschutzpläne nachschärfen. Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Europaweit soll dies bis 2050 gelingen. Dass Deutschland seine CO2-Emissionen von 1990 bis heute um 40 Prozent reduzieren konnte, obwohl sich die Wirtschaftsleistung mehr als verdoppelt hat, demonstriert: Strukturelle Veränderungen sind keine Utopie.

Voraussetzung aber ist erstens, die Wirtschaft konsequent zu einer öko-sozialen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln. Das gegenwärtige Wirtschaftsmodell verursacht Klima- und Umweltschäden in Billionen-Höhe. Das taucht auf keinem Preisschild auf. Deshalb muss eine CO2-neutrale Wirtschaft zum globalen Leitbild werden. Zweitens sind Investitionen in eine globale Energiewende unverzichtbar. Der globale Süden holt gegenwärtig jene Entwicklung nach, die Industriestaaten längst hinter sich haben. Viele dieser Länder können sich eine Energiewende aber kaum leisten. Weil der Aufholprozess nicht auf Kosten des Weltklimas gehen darf, sind massive Investitionen der Industrieländer unverzichtbar.

Logo: Stiftung Allianz für Entwicklung und Klima

Das Prinzip: vermeiden, verringern, kompensieren Interner Link

1.100 Mitglieder der Allianz „Entwicklung und Klima“ sind auf dem Weg zur Klimaneutralität. Sie kompensieren den noch nicht vermeidbaren Teil ihrer CO2-Emissionen mit zertifizierten Projekten in Entwicklungsländern, etwa Aufforstungen oder Solaranlagen. Damit holen sie nachweisbar so viel CO2 aus der Atmosphäre oder sparen es an anderer Stelle ein, wie sie noch verursachen. Und sie fördern gleichzeitig eine CO2-neutrale Entwicklung weltweit durch Wissens- und Technologietransfers.

Bis 2050 könnten so fast 90 Prozent des weltweiten Energiebedarfs mit Erneuerbaren gedeckt werden. Das sind auch riesige Wachstumsmärkte für Technologie „made in Germany“. In der marokkanischen Wüste hat Deutschland beispielsweise 800 Millionen Euro in den Ausbau des modernsten Solarkraftwerks der Welt investiert. 1,3 Millionen Menschen werden mit sauberem Strom versorgt, der dort für weniger als zwei Cent pro Kilowattstunde produziert werden kann. Im nächsten Schritt soll eine Referenzanlage für grünen Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe aufgebaut werden. Vor allem Länder in Afrika haben ideale Voraussetzungen für den Ausbau erneuerbarer Energien. Das schafft Arbeitsplätze für die vielen jungen Menschen vor Ort, stärkt die Technologieführerschaft in Deutschland und ist ein sehr wirksamer Beitrag für den Klimaschutz.

Globaler Klimaschutz heißt drittens: die Lunge des Planeten schützen. Immerhin gehen elf Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes auf das Konto der Waldvernichtung – was auch das Ergebnis des weltweiten Konsumverhaltens ist. Zum Vergleich: Das ist fünfmal so viel wie der gesamte CO2-Ausstoß von Deutschland. Und der Artenverlust kommt noch hinzu! Unverzichtbar ist daher der Schutz der Wälder und humushaltiger Böden als natürliche CO2-Speicher: Jeder Baum, jeder Wald und jedes Moor bindet schließlich Kohlenstoff und produziert Sauerstoff. Im Kampf gegen den Klimawandel ist die Natur der wichtigste Verbündete.

Journalistin und Moderatorin Nina Ruge bei der BMZ-Veranstaltung '"Zukunft sichern – Biologische Vielfalt erhalten" im Dezember 2019
In der Allianz sind 1.100 Akteure, die das Ziel verbindet, in Entwicklungs- und Schwellenländern zur CO2-Reduktion beizutragen und alle Nachhaltigkeitsziele voranzutreiben. Jeder, der die Plattform unterstützen will, muss seinen eigenen ökologischen Fußabdruck messen, um künftig CO2 zu reduzieren, zu vermeiden oder zu kompensieren.
Nina Ruge Journalistin, Moderatorin, Autorin und Botschafterin für die Allianz für Entwicklung und Klima

Um weltweit die Minderung von Emissionen voranzubringen, in klimafreundliche Technologien zu investieren und nachhaltige Entwicklung zu fördern, ist der Schulterschluss von privaten und öffentlichen Akteuren gefragt. Die neue „Allianz Entwicklung und Klima“ spiegelt dies wider. Darin haben sich Städte, Apotheken, Fußball-Bundesligisten und globale Unternehmen wie Bosch, SAP und Volkswagen auf den Weg in Richtung Klimaneutralität begeben.

Für die Einhaltung des ungeschriebenen Klimagenerationenvertrags sind schließlich alle gefragt – Privatleute ebenso wie wirtschaftliche und staatliche Akteure. Denn solange der Durchschnittsdeutsche noch zehn Tonnen CO2 pro Jahr emittiert, sollte es auch hier selbstverständlich sein, Verantwortung zu übernehmen für eine Welt, die wir von unseren Kindern tatsächlich nur geliehen haben.

Zeitfragen des Jahrhunderts | Video-Cast

Über die globalen Auswirkungen der Klimakrise diskutierten beim ZEIT-Video-Cast unter anderen Gerd Müller (Bundesentwicklungsminister), Nina Ruge (Journalistin, Moderatorin und Autorin), Estelle Herlyn (wissenschaftliche Leiterin des Kompetenzzentrums für nachhaltige Entwicklung FOM Düsseldorf) und Christian Schneider (Geschäftsführer von UNICEF Deutschland).

Entwicklungsminister Gerd Müller (rechts) mit Estelle Herlyn, wissenschaftliche Leiterin des Kompetenzzentrums für nachhaltige Entwicklung an der FOM-Hochschule Düsseldorf und Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland

Zeitfragen des Jahrhunderts SDG 13 Maßnahmen zum Klimaschutz