Rede Jennifer Makumbi

Wie Europa Afrikas Schweigen füllte

Jennifer Makumbi, ugandisch-britische Schriftstellerin, bei ihrer Keynote
Aufzeichnung der Rede von Jennifer Makumbi


Sehr geehrte Ministerin Svenja Schulze, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der EU, der UN, der Afrikanischen Union, sehr geehrte Botschafterinnen und Botschafter, sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestags,

vielen Dank für die Gelegenheit, hier heute über Afrika sprechen zu dürfen. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ein europäisches Land anerkennt, dass Afrika massiv falsch dargestellt worden ist. Für mich symbolisiert das eine neue Haltung und den Beginn einer sinnhafteren Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika. Es überrascht mich nicht, dass Deutschland hier den ersten Schritt tut. Nachdem ich jetzt sieben Monate in Berlin verbracht habe, weiß ich, dass die Deutschen verstehen, wie es ist, stumm zu sein, wenn andere das eigene Schweigen mit Unwahrheiten und Mythen füllen. Sehen Sie, ehe ich hierher kam, dachte ich, ich wüsste, wie die Deutschen sind. Aber mein Wissen basierte auf Darstellungen – in Hollywood, in Dokumentarfilmen, Romanen und den britischen Medien. Sie können sich vorstellen, wie verblüfft ich war, als ich im Sommer erlebte, wie die Deutschen ihre Boxen im Park aufstellten, die Musik aufdrehten und anfingen zu tanzen. Ich rief meine Familie zu Hause an und erzählte, dass die Deutschen hier im Park tanzen. Mein Mann sagte, das müssen Migranten sein; die echten Deutschen arbeiten. Die Freundlichkeit und Offenheit der Menschen in Berlin war entwaffnend, weil ich sie nicht erwartet hatte. Ich sage nicht, dass Berlin perfekt wäre. Ich sage, dass auch ich den Mythen erlegen war.

„In dem Moment, in dem wir verstummen, wird diese Stille durch andere gefüllt.“

Wie Europa Afrikas Schweigen füllte.

Ich möchte mit einem Auszug aus meinem Roman Kintu beginnen, um Ihnen einen Eindruck davon zu geben, wie Europa Afrika zu Beginn der Unabhängigkeit hinterließ. Zurück blieb AFRikaNSTEIN.

Um sich tretend und schreiend wurde Afrika auf den OP-Tisch gezerrt. Es hieß, die Operation würde den trägen afrikanischen Körper dazu bringen, sich schneller zu entwickeln. Als die Narkose aber erst einmal wirkte, konnten die Chirurgen tun, was ihnen gefiel. Erst trennten sie die afrikanischen Hände ab, dann schnitten sie die Beine ab und entsorgten sie. Anschließend besorgten sie europäische Glieder und pfropften sie dem schwarzen Torso auf. Als der Afrikaner erwachte, war der Europäer in sein Haus eingezogen.

Obwohl der Afrikaner zu schwach war, um aufzustehen, sagte er zu dem Europäer: „Mein Freund, mir gefällt nicht, was du tust. Bitte verlass' mein Haus.“ Aber Europa antwortete: „Bruder, ich will doch nur helfen. Du bist zu schwach und benommen, um dich um dein Haus zu kümmern. Ich werde in der Zwischenzeit danach sehen. Wenn du dich ganz erholt hast, verspreche ich dir, dass du viel schneller arbeiten und rennen wirst als ich.“

Aber der afrikanische Körper stieß die europäischen Glieder ab. Afrika sagte, dass sie inkompatibel seien. Die Ärzte sagten, dass Afrika sich selbst zu früh aus dem Krankenhaus entlassen habe und deshalb nun viel Blut verliere. Es benötige jetzt reichlich Blut und Flüssigkeit und müsse an den Tropf. Afrika sagte, das Blut und der Tropf seien zu teuer. Die Ärzte sagten: „Unsinn, wir haben dasselbe mit Indien gemacht und schau, wie schnell es rennt.“

Als Afrika in den Spiegel blickte, sah es, dass es hässlich war. In den Augen anderer sah Afrika Abscheu. Daraus zog Afrika das Recht, sich selbst zu hassen und zu verletzen. Manchmal, wenn die Welt gerade nicht hinschaut, kneifen die Ärzte Afrika in seine Wunden. Wenn es stürzt, sagen sie: „Siehst du, wir haben dir gesagt, dass du noch nicht so weit bist.“

Wir können nicht an den OP-Tisch zurückkehren und die afrikanischen Glieder zurück verlangen. Afrika muss lernen, auf europäischen Beinen zu laufen und mit europäischen Händen zu arbeiten. Mit der Zeit werden Kinder mit anders entwickelten Körpern geboren werden. Und mit der Zeit wird Afrika sich der AFRikaNSTEIN-Natur entsprechend entwickeln und sein volles Potenzial entfalten. Aber es wird weder afrikanisch noch europäisch sein. Dann wird der Schmerz nachlassen.

Nach dem Kampf für Unabhängigkeit hat Afrika sich auf die Heilung seiner Wunden konzentriert, um mit europäischen Gliedern laufen und arbeiten zu können. Seine Geschichte auf der Weltbühne zu erzählen, stand nicht auf der Tagesordnung. Und es verfügte auch gar nicht über den entsprechenden Propagandaapparat – es hatte keine Filmindustrie, keine internationalen Fernsehsender, keine internationalen Zeitungen oder Radiosender, nicht mal eine Verlagsbranche. Es war unvermeidlich, dass Afrika auf der Weltbühne stumm blieb.

Also kam Europa herbei und füllte diese Leere. Mit seiner im Zweiten Weltkrieg perfektionierten Propagandatechnik, startete Europa eine orchestrierte Kampagne der Falschinformation, mit Verzerrungen, Lügen und Mythen, die Afrika als den letzten Kontinent darstellten, der zur Menschheit aufschließt. Es entstand eine Dichotomie zwischen Europa und Afrika. Auf der einen Seite Afrika, schwarz, unzulänglich, heidnisch, faul, gewalttätig, hypersexualisiert, viel Muskelmasse aber kein Hirn, und all die Etiketten der Unterlegenheit des dunklen Kontinents. Auf der anderen Seite Europa, weiß, mit all den Attributen der Reinheit, Schönheit, Güte; intellektuell, wissenschaftlich, überlegen. Diese Mythen wurden anfangs erdacht, um die Sklaverei und Kolonialisierung zu rechtfertigen. Aber dann wurden sie verstetigt und der gesamten Welt unauslöschlich in die Psyche geschrieben. Afrikas Menschlichkeit wurde ausgelöscht. Die meisten von Ihnen hier im Saal und überall sonst in der Welt wurden ihr Leben lang verlässlich mit Bildern, Geschichten, Filmen, Dokumentarfilmen, Büchern, wissenschaftlichen Annahmen und Theorien über dieses Afrika gefüttert. Je hässlicher Afrika dargestellt wurde, umso mehr schien Europa zu glänzen.

Zu der Zeit waren die europäischen Weltreiche im Niedergang. Europa musste der Welt in Erinnerung rufen, dass es noch nicht ausgedient hatte. Ja, in Europa und den USA waren schwarze Aufstände an der Tagesordnung. Also wurde Afrika der Baseballschläger, um diese Aufstände niederzuschlagen. Diese Kampagne erlaubte es Europa auch, afrikanische Volkswirtschaften ungestraft aus den Weltmärkten zu drängen. Sehen Sie, als Europa in afrikanischen Volkswirtschaften das Sagen hatte, handelte es mit sich selbst. Jetzt hatte Afrika das Sagen, aber Europa musste weiterhin Rohstoffe günstig aus Afrika beschaffen, die Weiterverarbeitungsjobs weiter in Europa behalten und fertige Produkte dann wieder teuer nach Afrika verkaufen. Es war niederträchtig. Auf der einen Seite gab es das demütigende, schikanierende, manipulierende Europa. Auf der anderen Seite griff Europa bei Problemen in Afrika ein. Europa und die weiße Welt landeten in Afrika mit ihrer Herrlichkeit und ihrem Vermögen, um unsere Probleme zu lösen. Afrika wurde zur Bühne, auf der Europa auftrat, um in seiner Großartigkeit zu glänzen. Es kam mit seiner Medienmaschinerie und Bilder gingen um die Welt, die zeigten, wie Europa Afrika rettete. Wir, unsererseits, sangen, klatschten und tanzten. Manchmal kam das Geld auch einfach nicht an. Aber wer würde schon kleptokratischen afrikanischen Politikern Glauben schenken? Afrika wurde zur „Bürde des weißen Mannes“ erklärt.

Diese Kampagne war so erfolgreich, dass weiße Leute sagten: „Ich mag schwarze Menschen, aber bei Afrika ziehe ich eine rote Linie.“ Deswegen kamen Touristen in afrikanische Städte und fragten, wo das echte Afrika sei. Deswegen bevorzugt die Leserschaft im Westen afrikanische Bücher über Krieg, Armut und Krankheiten; darin bestätigt sich das Afrika, das sie kennen. Deswegen flüsterten die Leute, als ich meinen Master machte und bessere Noten bekam als die weißen Studierenden: „Ihnen gibt man bessere Noten, um sie zu ermutigen“. Deswegen passierte es, wenn ich mit anderen Promovierenden ausging, dass man mich etwas nervös vorstellte: „Das ist Jenny. Jenny ist intelligent.“ Ich hätte am liebsten geschrien: „Schätzchen, ich habe Millionen von Menschen in Uganda zurück gelassen, die so viel intelligenter sind als ich.“ Deswegen kam mein siebenjähriger Sohn eines Tages aufgebracht von der Schule nach Hause. Ein Freund hatte zu ihm gesagt: „Ich bin zwar nicht weiß, aber Gott sei Dank bin ich kein Afrikaner.“ Deswegen hält die Welt Präsident Obama für außergewöhnlich. Deswegen bezeichnete Präsident Trump Afrika als Drecksloch und seine Frau trug auf einer Reise nach Afrika ihre kolonialen Fantasien zur Schau. Deswegen schlugen zwei angesehene französische Ärzte vor, Corona-Impfstoffe an Afrikanern zu testen. Deswegen verkündete Präsident Nicolas Sarkozy, dass der afrikanische Mensch noch keine Geschichte geschrieben hat. Ehrlich gesagt war das der Moment, an dem Afrika begriff, wie dürftig Europas Kenntnis der Welt ist.

Während ich europäische Geschichte studiert habe, von der Französischen Revolution (1794) bis zur Deutschen Wiedervereinigung, hat (Bismarcks) Europa keine Ahnung davon, dass die afrikanische Geschichte bis zu den Nubiern im Jahr 2500 v. Chr. zurückreicht. Im modernen Sudan ist Nubien weiterhin sichtbar. Im Sudan gibt es mehr Pyramiden als in Ägypten. Europa, dieses Nichtwissen ist Absicht. Jetzt, da dieses Narrativ nicht mehr trägt, wissen Sie, was man jetzt sagt? Afrika erhebt sich.

Bleiben wir kurz beim Bild der faulen Afrikaner. 1994 kam mein Chef aus dem englischen Kent nach Uganda und war erstaunt, dass die Ugander morgens aufstehen, um in Büros, landwirtschaftlichen Betrieben, auf Märkten und wo auch immer zu arbeiten. Er sagte: „Jennifer, schreib darüber, du musst der Welt erzählen, dass die Afrikaner nicht herumsitzen und auf Hilfe warten.“ Ich war irritiert. Ich meine, für wie reich hielten sich diese Menschen? War ihnen klar, wie groß Afrika ist? Jetzt frage ich die Welt: Wie können ein paar faule afrikanische Immigranten, denen es erlaubt ist, bei euch zu leben, so viel arbeiten und sparen, dass sie laut Weltbank jedes Jahr 40 Milliarden Dollar nach Hause schicken? Sie wissen ja, die meisten Afrikaner bei Ihnen machen die niederste Arbeit, sie werden marginalisiert und an Ihren Grenzen schikaniert. Hier möchte ich sagen: „Jetzt komm schon, Afrika, sei nachsichtig mit dir selbst.“ Denn wir sind unser schlimmster Kritiker. Ja, unsere Entscheidungsträger/Regierungen lassen uns immer wieder im Stich, Korruption ist weitverbreitet und die öffentlichen Dienste sind am Boden. Aber, schau doch, abgesehen davon, dass wir eine Mitschuld am Sklavenhandel tragen, lief der arabische Sklavenhandel schon seit 900 Jahren. Dann kam Europa dazu und unser Kontinent wurde ausgesaugt, die Menschen und ihre Arbeitskraft wurden auf andere Kontinente verschifft. Als das endete, kam Europa erneut zurück. Dieses Mal kam es nicht nur, um Kulturen, wirtschaftliche, politische und soziale Systeme auszulöschen. Es kam wegen Bodenschätzen, Tieren und Pflanzenprodukten. Es hatte es sogar auf Landschaften abgesehen und benannte Seen, Flüsse, Berge und ganze Länder um und gab ihnen seine Namen. Und als es hinausgeworfen wurde, startete es die dritte Zerstörung und nahm uns die letzte verbliebene Menschlichkeit. So – und wieso erwartest du, Afrika, du könntest dich von alldem in 70 Jahren Unabhängigkeit erholen? Europa brauchte 2000 Jahre, um seine christliche Zivilisation zu perfektionieren. In dieser Zeit erlebte es Kriege, despotische Könige, Knechtschaft, blutige Revolutionen, Völkermorde, unzählige Staatsstreiche und brutale Diktaturen. Und dennoch wurde all diese Gewalt als normal für Afrika und völlig wesensfremd für Europa dargestellt.

Wie also kooperiert dieses Afrika mit diesem Europa in dieser Zeit des Wandels? Es gibt Bereiche, in denen die beiden Kontinente erfolgreich zusammengearbeitet haben – in der Wissenschaft, Bildung, Forschung und den Künsten. Mein Leben lang haben Menschen aus Uganda Stipendien bekommen, um in Europa zu studieren. Sie brachten ihr Wissen über Afrika mit und Europa bot universitäre Einrichtungen und freie Zeit zum Studieren. Ich habe europäische Ärztinnen in Uganda gesehen, die Tropenkrankheiten und andere Erkrankungen erforschten. Ich habe Europäer in Uganda gesehen, die traditionelle Praktiken in Landwirtschaft, Medizin, Musik, Tanz und Ernährung und mündliche Überlieferungen studierten. Auf der anderen Seite haben afrikanische Kunstschaffende aller Art von Stipendien in Europa profitiert. Ich selbst bin eine solche Stipendiatin. Diese Art der Kooperation hat etwas Würdevolles, weil sie die Machtstrukturen von Reich und Arm umgeht. Endlich. Ich gratuliere Ministerin Svenja Schulze zu ihrem feministischen Ansatz. Denn der Feminismus entspringt einer Welt des Schweigens und der Falschdarstellung; er hat ein Gespür für versteckte Symptome von Marginalisierung und Unterdrückung. Ich glaube, Sie werden die richtigen Werkzeuge haben, um mit Afrika zu arbeiten. Viel Glück für Ihren Weg durch dieses neue Kapitel.

Stand: 25.01.2023