7. Juli 2022 Feministische Entwicklungspolitik: Was ist damit gemeint?

Rede von Dr. Bärbel Kofler, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bei der Veranstaltung zum 60-jährigen Jubiläum des Seminars für Ländliche Entwicklung (SLE) der Humboldt-Universität zu Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Prof. Schneider,
sehr geehrte Frau Dr. Neubert,
sehr geehrter Herr Prof. Grethe,
sehr geehrte Zugehörige des Seminars für Ländliche Entwicklung,
sehr geehrte Absolventinnen und Absolventen des Postgraduiertenstudiums „Internationale Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung“,
sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Glückwunsch an das SLE zum 60. Geburtstag! Ich freue mich heute hier zu sein – zumal zu diesem schönen Anlass.

Bundesministerin Svenja Schulze hat zu Beginn ihrer Amtszeit als Entwicklungsministerin einen Paradigmenwechsel ausgerufen: eine feministische Entwicklungspolitik. Wir wollen die Entwicklungszusammenarbeit transformieren, indem wir Gleichstellung ganz gezielt in den Mittelpunkt stellen.

Doch was ist neu an einer feministischen Entwicklungspolitik? Inwiefern unterscheidet sie sich von bisherigen Ansätzen? Worin genau besteht der Paradigmenwechsel?

Werfen wir einen Blick auf die Welt!

  • Rund 130 Millionen Mädchen wird das Recht auf Bildung verwehrt.
  • Weltweit haben etwa eine Milliarde Frauen keinen Zugang zum formellen Finanzsystem.
  • Frauen verrichten etwa drei Viertel der unbezahlten Pflege- und Hausarbeit.
  • Etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen sind von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen.
  • Jede dritte Frau erfährt mindestens einmal im Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt. Eine Zahl, die sich während der Corona-Pandemie noch erhöht hat.
  • Weltweit sind nur 26 Prozent der Mitglieder nationaler Parlamente Frauen. Selbst in Deutschland sind es lediglich knapp 35 Prozent.

Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache! Von einer Gleichstellung der Geschlechter ist die Weltgemeinschaft noch weit entfernt. Das bestätigt auch der Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums. Demnach dauert es noch mehr als 135 Jahre, bis Geschlechtergleichstellung erreicht ist – sofern das bisherige Tempo beibehalten wird. Das dauert uns entschieden zu lange!

Es geht dabei nicht nur um Gerechtigkeit für Mädchen und Frauen – die Ergebnisse werden auch besser, wenn Frauen gleichberechtigt sind. Sie kennen vielleicht die Studien zum Agrarsektor: Eine angemessene Beteiligung von Frauen würde die landwirtschaftliche Produktion erhöhen. Und letztlich könnte damit die Anzahl der Hungernden weltweit gesenkt werden. Daran zeigt sich, dass das Nachhaltigkeitsziel 5 – die Gleichstellung der Geschlechter – auch auf die anderen Nachhaltigkeitsziele einzahlt.

SDG 5 ist ein Schlüsselfaktor für die gesamte Nachhaltigkeitsagenda. Wir können die Überwindung von Armut und Hunger ohne eine echte Gleichstellung nicht erreichen. Deswegen brauchen wir jetzt eine dezidiert feministische Entwicklungspolitik! Eine Politik, die die Überwindung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten zum Ziel hat. Nur so können wir auch die anderen Nachhaltigkeitsziele erreichen.

Ich sehe vier Merkmale einer feministischen Entwicklungspolitik:

  1. Sie ist menschenrechtsbasiert. Es geht nicht um eine „Politik von Frauen für Frauen“, sondern um einen Ansatz, der auf Chancengleichheit und Gerechtigkeit abzielt. Gleichstellung ist ein Menschenrecht und davon profitieren letztendlich alle.
  2. Feministische Entwicklungspolitik ist gender-transformativ. Das heißt: Wir wollen die strukturellen Ursachen von Ungleichheit angehen. Wir hinterfragen Rollenbilder und Geschlechterstereotypen und wollen diskriminierende soziale Normen überwinden.
  3. Feministische Entwicklungspolitik ist inklusiv. Sie bezieht Personen der LSBTIQ+-Community explizit mit ein.
  4. Und sie ist machtkritisch. Sie adressiert diskriminierende Strukturen, aus der gesellschaftliche Ungleichheiten folgen. Und sie berücksichtigt das Zusammenwirken verschiedener Formen von Diskriminierung. Zum Beispiel von Rassismus und Sexismus.

Leitprinzipien unserer feministischen Entwicklungspolitik sind die „3 R“: Rechte, Repräsentanz, Ressourcen.

Die Voraussetzung für eine echte Gleichstellung sind natürlich gleiche Rechte. Diskriminierende Gesetze müssen aufgehoben werden. Frauen und Mädchen müssen in allen Lebensbereichen rechtlich gestärkt werden.

Die Geschlechter brauchen gleichen Zugang zu Ressourcen: zu Krediten, zu Land, zum Internet.

Außerdem muss die Repräsentanz von Frauen gestärkt werden. Wir brauchen Frauen am Tisch! Bei internationalen Verhandlungen genauso wie bei der Planung neuer Entwicklungsprojekte.

Schauen wir uns die für Sie besonders relevanten Bereiche Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Ernährungssicherung an:

Frauen tragen in Entwicklungsländern maßgeblich zur landwirtschaftlichen Produktion und Ernährungssicherung der Haushalte bei:

  • Sie bestellen und ernten die Felder.
  • Sie kümmern sich um das Vieh.
  • Sie verarbeiten die landwirtschaftlichen Erzeugnisse.
  • Sie verkaufen die Produkte auf den lokalen und regionalen Märkten.

In vielen Ländern sind Frauen jedoch strukturell benachteiligt. Aufgrund von Traditionen, gesellschaftlichen Normen und Diskriminierung:

  • Oft wird ihnen der Zugang zu Kapital und Agrarfinanzierung verwehrt.
  • Genauso der Zugang zu Betriebsmitteln.
  • Und auch zu Wissen über neue Technologien und Innovationen.
  • In der Landwirtschaft werden Frauen zumeist schlechter bezahlt.
  • Weltweit sind nur knapp 14 Prozent aller Landbesitzenden Frauen.
  • Zudem leiden Frauen im reproduktiven Alter, Schwangere und Stillende besonders häufig an Mangelernährung.

Diese Ungleichheiten wollen wir überwinden!

Einige Vorhaben laufen bereits:

  • Beispielsweise setzen wir schon das Projekt ATVET4Women zur Berufsbildung von Frauen im Landwirtschaftssektor um.
  • Oder die Registrierung von Frauenlandrechten durch das Vorhaben „Verantwortungsvolle Landpolitik“.
  • Mit dem Mother and Child Cash Transfer Program im Sudan erreichen wir 50.000 schwangere und stillende Frauen sowie deren Kinder unter zwei Jahren. Die ersten 1.000 Tage in der Entwicklung eines Kindes sind für die spätere Gesundheit entscheidend. Die Transferzahlungen tragen zur Ernährungssicherung der Kinder bei – und werden durch Sensibilisierung der Mütter zu ernährungs- und gesundheitsrelevanten Verhaltensänderungen ergänzt. Gleichzeitig wird das staatliche soziale Sicherungsnetz gestärkt, unter anderem durch den Aufbau eines Registrierungssystems für Frauen und Mütter. Eine Aufstockung – auch angesichts der Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Lebensmittelpreise – ist in Planung.

Diese Projekte stiften Hoffnung und machen Mut. Sie müssen aber noch mehr werden. In Kanada beispielsweise fördern 92 Prozent der öffentlichen Entwicklungsleistungen auch die Gleichstellung der Geschlechter. Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Hier wollen und müssen wir nachbessern.

Im BMZ arbeiten wir auf Hochtouren daran, die feministische Entwicklungspolitik weiter mit Leben zu füllen.

  • Wir haben ein neues Referat „Geschlechtergerechtigkeit“ geschaffen.
  • Wir haben eine BMZ-interne Arbeitsgruppe etabliert.
  • Bis Anfang nächsten Jahres werden wir einen Gender-Aktionsplan vorlegen.

Unsere feministische Entwicklungspolitik wird so zunehmend Eingang in unsere weltweite Projektarbeit finden.

Abschließend noch ein Wort an die SLE-Absolventinnen und -Absolventen: Die Entwicklungszusammenarbeit braucht engagierte Personen wie Sie. Sie sind gut ausgebildet. Sie sind intrinsisch motiviert und idealistisch. Und Sie haben ein Gespür für die Ungerechtigkeiten und Machtdynamiken auf der Welt. Bringen Sie sich ein! Engagieren Sie sich! Helfen Sie mit, diese Welt ein Stück besser zu machen! Seien Sie aufmerksam und hören Sie zu. Seien Sie empathisch. Und vor allem – lassen Sie nicht locker. Das sind die Tugenden, die wir brauchen. Auch für die Umsetzung unserer feministischen Entwicklungspolitik.

Ich danke Ihnen!