31. März 2022 Nichthandeln können wir uns nicht leisten

Mehr als 95 Prozent der Menschen in Afghanistan haben nicht genug zu essen, warnt die Welthungerhilfe. Zugleich verschlechtert sich die Lage für Journalistinnen und Aktivisten. Die internationale Gemeinschaft trägt eine Verantwortung dafür, ihnen zu helfen, schreibt Bundesministerin Svenja Schulze anlässlich der UN-Geberkonferenz für Afghanistan, die an diesem Donnerstag stattfindet.

Ein Gastbeitrag von Bundesentwicklungsministerin Schulze in der ZEIT (Externer Link).

Die ganze Welt schaut schockiert auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Jeden Tag erreichen uns neue Bilder von furchtbarem Leid. Es ist nur zu verständlich, dass die Ukraine deshalb im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Als Entwicklungsministerin muss ich gleichwohl auch die vielen Krisen und Nöte in allen Teilen der Welt im Blick behalten. Gerade in diesen Zeiten soll die Welt wissen, dass wir auch nach Afghanistan schauen – aus guten Gründen: Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung hungert, darunter 13 Millionen Kinder. Das Bildungs- und Gesundheitswesen steht kurz vor dem Zusammenbruch und die Wirtschaft ist im freien Fall.

Zugleich verschlechtert sich die Menschenrechtslage, Journalisten werden eingeschüchtert, Frauenrechtsaktivistinnen verhaftet und Nichtregierungsorganisationen wieder viel stärker kontrolliert. Hier ist die Fachkenntnis der Entwicklungszusammenarbeit gefragt, zu deren Kerngeschäft die Bekämpfung von Hunger und Armut sowie der Schutz der Menschenrechte und der Geschlechtergleichstellung seit Jahrzehnten gehören.

Nach der Machtübernahme der Taliban hatten viele im Westen verständlicherweise den Impuls: bloß raus. Aber nach 20 Jahren zivilem und militärischem Engagement trägt die internationale Gemeinschaft eine Verantwortung, die uns diese Art des Wegschauens verbietet. Im Koalitionsvertrag steht: „Deutschland wird sein Engagement für die Menschen in Afghanistan fortsetzen.“ Es stellt sich daher für die Bundesregierung die Frage, wie wir nicht nur kurzfristig die notwendige Unterstützung mit Reissäcken und Wassertanks als teure Nothilfedauerschleifen organisieren können, sondern auch nachhaltiger aktiv werden, zum Beispiel mit Saatgut und reparierten Wasserleitungen, um Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen. Die Alternative dazu wäre verheerend für die Menschen in Afghanistan: Hunger, Armut und Bürgerkrieg, mit all den destabilisierenden Folgen weit über die Grenzen hinaus.

Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben eröffnen

Es muss uns der Balanceakt gelingen, die Menschen in Afghanistan zu unterstützen, ohne dabei die De-facto-Talibanregierung in irgendeiner Weise zu legitimieren. Nichthandeln können und wollen wir uns nicht leisten. Ohne unser Engagement kann auch eine Stärkung von Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht gelingen.

Die jüngste Entscheidung der Taliban, entgegen mehrfacher Ankündigung, die Sekundarschulen nun doch nicht für Mädchen zu öffnen, hat uns erneut vor Augen geführt, vor welchen Herausforderungen wir hier stehen. Die Schulschließung schadet nicht nur der persönlichen Entwicklung eines jeden einzelnen Mädchens, sondern auch der wirtschaftlichen Entwicklung des gesamten Landes. Das wird die Bundesregierung so nicht stehen lassen, da sind wir uns in der internationalen Gebergemeinschaft einig. Wir haben – gemeinsam mit unseren europäischen Partnern – die Machthaber in Kabul aufgefordert, diese Entscheidung umgehend zurückzunehmen. Die Achtung der Menschenrechte ist für uns zentrale Voraussetzung für eine Zusammenarbeit mit afghanischen Regierungsbehörden. Wir sind auch überzeugt davon, dass die Mehrheit der Menschen in Afghanistan diese Entscheidung nicht akzeptiert, und wir hoffen, dass sie bereits deshalb keinen Bestand haben wird.

Wie stark wir uns für die Verbesserung der Lebenssituation der Afghaninnen und Afghanen engagieren können, hängt entscheidend davon ab, welchen Weg die Taliban einschlagen. Aus meiner Sicht muss es dabei Handlungsspielräume geben, die ein Ausbalancieren von notwendiger Regierungsferne einerseits und dem Anspruch andererseits ermöglichen, die Lebensumstände der Bevölkerung zu verbessern. Bei der Nutzung dieser Spielräume wird es möglich sein, einen Schwerpunkt auf die Stärkung von Frauen und Mädchen zu setzen. Auch international besteht Konsens, dass es mittelfristig darum gehen muss, den Menschen in Afghanistan wieder Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen.

Frauen und Mädchen in Afghanistan dürfen nicht doppelt leiden

Wir fangen nicht bei null an: So hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zur Abmilderung der humanitären Katastrophe allein im vergangenen Jahr 250 Millionen Euro für Afghanistan bereitgestellt. Auch in diesem und in künftigen Jahren wollen wir auf hohem Niveau engagiert bleiben. Jenseits aller humanitären Erfordernisse wird mein Engagement darauf gerichtet sein, oft mühsam aufgebaute und immer noch funktionsfähige Strukturen im sozialen Bereich – etwa Schulen und Krankenhäuser – zu erhalten und die sehr prekäre wirtschaftliche Lage des Landes zu verbessern. Dabei möchte ich die Menschenrechte nicht nur rhetorisch proklamieren, sondern mit Maßnahmen insbesondere zur Stärkung der Rechte und Perspektiven von Frauen und Kindern fördern.

Eine der zentralen Lehren aus 20 Jahren Engagement in Afghanistan lautet, realistische Ziele zu setzen. Das deutsche entwicklungspolitische Engagement richtet sich künftig darum so aus, dass es dynamisch reagieren kann. Damit Kinder weiter in die Schule gehen und Kranke medizinisch versorgt werden können, müssen wir mitunter auch mit der örtlichen Verwaltung zusammenarbeiten. Hier geht es um die Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger, die ansonsten nicht gewährleistet werden kann. Zugang zu sauberem Trinkwasser etwa wird ohne die örtlichen Wasserversorger nicht möglich sein. Ich möchte dazu beitragen, dass wir die Wasserinfrastruktur erhalten, Betriebspersonal der lokalen Wasserwerke schulen oder dafür sorgen, dass die Wasserpumpen in Städten weiterlaufen können, in denen die Wasserversorgung derzeit stark eingeschränkt ist.

Viele Maßnahmen können unabhängig von den Taliban umgesetzt werden. Um es deutlich zu sagen: Diese Regierungsferne ist mir wie allen in der Bundesregierung wichtig, solange Afghanistan nicht über eine inklusive, legitime und als solche anerkannte Regierung verfügt. Daher arbeitet das Entwicklungsministerium vorrangig mit Organisationen der Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft zusammen, vereint in dem Ziel, die Widerstandsfähigkeit der afghanischen Bevölkerung zu stärken – etwa durch Programme zur Ernährungssicherung oder der Minderung akuter Ursachen von Flucht und Binnenvertreibung, zur Stabilisierung aufnehmender Gemeinden oder zur Unterstützung von Flüchtlingen in den Nachbarländern, insbesondere von Frauen.

Schulspeisungen sind für viele Kinder die einzige Mahlzeit am Tag

Konkret unterstützen wir zum Beispiel Unicef mit 25 Millionen Euro, damit Kinder in Afghanistan weiterhin Zugang zu Bildung haben. Unicef leistet damit unter anderem Zahlungen an Lehrkräfte, fördert kleine Infrastrukturmaßnahmen wie Sanitäranlagen in Schulen und ermöglicht gemeindebasierte Bildungsprogramme für Kinder, die nicht zur Schule gehen können. Ein weiteres Beispiel: Das Welternährungsprogramm hat von uns 50 Millionen Euro für Ernährungssicherungsmaßnahmen in Afghanistan erhalten. Damit werden Schulspeisungen unterstützt, für viele Kinder die einzige Mahlzeit am Tag.

Wichtige Partner sind für uns außerdem die Entwicklungsbanken – allen voran die Weltbank und die Asiatische Entwicklungsbank, die im Verbund mit der internationalen Staatengemeinschaft in der Lage sind, schnell, effizient und zum Wohle der Menschen in Afghanistan tätig zu werden. Ihre Finanzkraft gilt als wirksamer Hebel zur Durchsetzung entwicklungspolitischer Ziele gegenüber der De-facto-Regierung.

Die afghanische Bevölkerung und insbesondere die afghanischen Frauen und Mädchen leiden ohnehin unter der autoritären Herrschaftspraxis der Taliban. Sie würden einen noch höheren Preis zahlen, wenn sich die Entwicklungszusammenarbeit nicht in diesem multilateralen Vorgehen miteinbringen würde. Die Alternative zu einem solchen Engagement wäre eine weitere Destabilisierung der Region und das Erstarken dschihadistischer Bewegungen wie des sogenannten „Islamischen Staats“. Ich stehe für eine feministische Entwicklungspolitik. Und das bedeutet für mich, dass die Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht doppelt darunter leiden dürfen, dass die Taliban falsche Entscheidungen treffen.