22. Oktober 2023 Zeitenwende als entwicklungspolitische Herausforderung

Rede von Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bei einer Veranstaltung des Entwicklungspolitischen Forums in Münster zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Rosenau,
Sehr geehrte Frau Professor Schröder,
Liebe Katarina,
Sehr geehrte Damen und Herren,

Wenn Sie gegenwärtig die Nachrichten verfolgen, sind diese von Kriegsgeschehen dominiert – von Kriegen, die in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft wüten.

Sei es der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, oder – ganz aktuell – der brutale Terrorangriff der Hamas auf Israel. Die Hamas hat schlimmes Leid über die Menschen in Israel gebracht, und in der Folge auch viel Leid über die Menschen in Gaza.

Die grausame Gewalt gegen unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten, die Entführungen und Hinrichtungen wehrloser Menschen – all das schockiert mich zutiefst.

Die Bundesregierung sichert Israel ihre volle Solidarität zu. Unser tiefstes Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. Und natürlich arbeiten wir als Bundesregierung intensiv daran, eine humanitäre Katastrophe und weitere Destabilisierung der Region zu vermeiden.

Vor 375 Jahren wurde hier in Münster mit dem Westfälischen Frieden der furchtbare 30-jährige Krieg beendet. Der Westfälische Frieden gilt vielen als die Geburtsstunde der staatlichen Souveränität. Er hat nach einer langen Zeit des Krieges in Europa eine Friedensarchitektur für den Kontinent entworfen.

Heute ist die Frage nach einer stabilen Friedensarchitektur in Europa und darüber hinaus aktueller denn je.

Seit dem brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erleben wir eine Zeitenwende. Sicherheit hat für viele von uns eine neue Bedeutung bekommen.

Die Bundesregierung hat das zum Anlass genommen, eine neue Politik der integrierten Sicherheit zu etablieren.

Die Nationale Sicherheitsstrategie, die im Sommer verabschiedet wurde, benennt ganz klar:

Sicherheit bedeutet mehr als die Abwesenheit von Gefahr oder die körperliche Unversehrtheit. Sie bedeutet menschliche Sicherheit.

Und damit meine ich die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und gutes Leben führen zu können.

Ein Leben ohne Hunger, ohne Armut.

Ein Leben in einer sozial gerechten Gesellschaft, die demokratisch verfasst ist.

Ein Leben mit gleichen Rechten und Chancen für alle Menschen.

Ein Leben in Gesellschaften, die offen sind für unterschiedliche Lebensentwürfe.

Diese menschliche Sicherheit zu fördern, weltweit, ist das Ziel meiner Entwicklungspolitik.

Lassen Sie mich dies heute am Beispiel der Sahelregion erläutern.

Die Zusammenarbeit mit Ländern wie Mauretanien oder Mali macht sichtbar, was eine wirkungsvolle Entwicklungspolitik können muss und wie sie einen Beitrag zu Sicherheit und Frieden leisten kann: durch ihre Langfristigkeit, ihre Allianzen und durch ihre Werteorientierung.

Beginnen wir mit der Langfristigkeit.

Die Länder der Sahelregion wie Niger, Mali oder Mauretanien gehören zu den Ärmsten weltweit. Viele Konflikte überlagern sich dort.

Die Folgen des Klimawandels sind immer deutlicher erkennbar und die Ressourcen – Wasser, fruchtbares Land und Weideflächen für Vieh – werden knapper.

Das bedroht Menschen in ihrer Existenz.

Das entfacht Verteilungskonflikte.

Und es bietet einen Nährboden für extremistische Gruppen.

Gemeinsam mit unseren Partnern engagiert sich mein Ministerium deshalb dafür, die schwierigen Lebensbedingungen in der Region zu verbessern.

Langfristig. Zum Beispiel, indem wir in den Auf- und Ausbau von sozialer Sicherung investieren, denn sie schützt Menschen vor Krisen. Durch eine Grundsicherung etwa oder eine Gesundheitsversorgung können Menschen sich vor Armut schützen.

In Mauretanien zeigt sich ganz deutlich, dass das Stabilität fördert.

Wir unterstützen das Land zum Beispiel dabei, Flüchtlinge sozial abzusichern. Sie werden registriert und erhalten direkt Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung.

Das ist nicht selbstverständlich, denn auch die lokale Bevölkerung ist von Armut bedroht.

Aber es führt dazu, dass die Flüchtlinge besser integriert werden.

Das trägt zu sozialer Gerechtigkeit, das trägt zu gesellschaftlichem Frieden bei und macht es dem Terrorismus schwerer, Fuß zu fassen.

Gemeinsam mit unseren Partnerländern investieren wir auch in Bildung und gute Arbeit in der Region. Denn das schafft Wege aus der Krise und bietet gerade jungen Menschen Perspektiven.

Die meisten jungen Menschen im Sahel lassen sich nicht aus Überzeugung von extremistischen Gruppen anwerben.

Sie sind auf der Suche nach Einkommen. In Mauretanien unterstützt mein Ministerium deshalb gute Arbeit in der Fischerei.

Im Hafen von Nouakchott begegnete ich Lalla Souleymane, die dort in einem Verband Fischhändlerinnen vertritt und selbst in der Fischerei arbeitet.

Sie schilderte mir, wie unsere Schulungen zur hygienischen Verarbeitung von Fischen die Händlerinnen dabei unterstützt, ihre Ware besser zu vermarkten.

Parallel unterstützen wir die lokalen Behörden dabei, die Bestände vor Überfischung durch fremde Fangflotten zu schützen.

So hat nicht nur die Fischerei, so haben auch die jungen Menschen in Mauretanien eine Zukunft.

Gemeinsam mit unseren Partnerländern investieren wir in der Sahelregion auch in starke kommunale Strukturen und Dienstleistungen. Denn die verhindern, dass staatsfreie Räume sich ausbreiten und festigen den sozialen Zusammenhalt.

In Mali etwa investieren wir in sauberes Trinkwasser und stärken über das Welternährungsprogramm die Grundversorgung – zum Beispiel durch Mittagessen in ländlichen Schulen. Damit wird der Hunger gelindert, Bildung gestärkt und ein Gegenangebot zum Terrorismus geschaffen.

All diese Reformen wirken langfristig. Es geht darum, nachhaltige Strukturen aufzubauen, damit Krisen vorgebeugt wird. Diese Langfristigkeit schafft auch Vertrauen.

Und damit komme ich zu meinem zweiten Punkt: den Allianzen.

Entwicklungspolitik wirkt, indem sie partnerschaftlich arbeitet, Verbündete sucht, gemeinsame Ziele verfolgt.

Auch das ist vorausschauende Sicherheitspolitik.

Dort, wo es eine gemeinsame Grundlage gibt, arbeitet Deutschland mit den Regierungen zusammen.

Und dort, wo diese Grundlage fehlt, steuern wir entwicklungspolitisch auf lokale und regionale Akteure um.

Regierungsfern und bevölkerungsnah.

Wie zum Beispiel nach dem Militärputsch in Niger.

So kann die Zusammenarbeit mit einer Regierung gestoppt werden, ohne die Menschen im Stich zu lassen. So leistet Entwicklungspolitik einen Beitrag zur Stabilität.

Und dieser Beitrag beschränkt sich selbstverständlich nicht auf die Sahel-Region. Mein Ministerium engagiert sich weltweit dafür, Menschen ein sicheres Leben mit Perspektiven zu ermöglichen. Gemeinsam mit unseren Partnerländern in Afrika, Asien, Lateinamerika und der europäischen Nachbarschaft.

Gemeinsam mit multilateralen Institutionen wie den VN-Organisationen oder den europäischen Partnern in der EU.

Durch Allianzen.

Aber auch Allianzen können in unserer multipolaren Welt manchmal eine Herausforderung sein. Denn klar ist: Es sind Demokratien, mit denen wir am liebsten zusammenarbeiten. Es ist aber nicht realistisch, nur mit Demokratien zusammenzuarbeiten – alleine schon weil inzwischen rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in autokratischen Staaten leben.

Deshalb, und das ist mein dritter Punkt, basiert unsere Entwicklungszusammenarbeit auf einer werteorientierten Interessenspolitik.

Deutschland muss auch mit Autokratien kooperieren.

Um unsere Interessen weltweit durchzusetzen und um unsere Grundwerte zu verteidigen. Auch wenn wir unsere Entwicklungszusammenarbeit etwa nach einem Militärputsch in Mali oder Burkina Faso regierungsfern ausgestalten, bleiben wir dennoch im Dialog.

Über unsere Auslandsvertretungen beispielsweise oder Bündnisse wie die Sahel Allianz, deren Präsidentschaft ich übernommen habe. Oft bedeutet das auch, Ambivalenzen auszuhalten.

Sie zu überbrücken und mit Respekt Unterschiede klar aufzuzeigen. Und dennoch benennen wir hier unsere Werte ganz klar: allen voran die Einhaltung der Menschenrechte, eine feministische Entwicklungspolitik, Demokratie und eine regelbasierte internationale Ordnung.

Diesen Dialog braucht es für eine nachhaltige Sicherheitspolitik.

Denn er unterstützt gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, und die tragen zur Konfliktlösung bei. So schafft Entwicklungspolitik Frieden.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Entwicklungspolitik rückt die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt.

Sie schafft Sicherheit, indem sie Armut, Hunger und Ungleichheit als Treiber von Konflikten angeht.

Indem sie die demokratische Entwicklung fördert und Menschen dabei unterstützt, Krisen zu bewältigen.

Indem sie mit ihrer starken lokalen Verankerung sozialen Spannungen entgegenwirkt. Sie beugt Krisen vor und trägt zu einer sicheren Welt bei: durch ihre Langfristigkeit, ihre Allianzen und ihre Werteorientierung.

Meine Damen und Herren,

ich spreche heute zu Ihnen an einem historischen Ort.

Hier, in dem Saal genau unter uns, fanden – parallel zu den Verhandlungen in Osnabrück – die Friedensgespräche von Münster statt.

Sie besiegelten den Westfälischen Frieden.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert schon viel zu lange und auch der Konflikt im Nahen Osten wird andauern.

Und dennoch zeigt für mich die Geschichte, dass Frieden trotz aller gewaltsamen Konflikte möglich ist.

Dass Konflikte ein Ende finden können und dass es dafür multilaterale Vereinbarungen braucht.

Die Entwicklungspolitik leistet dazu einen entscheidenden Beitrag – und ist deshalb auch ganz zentral für den Frieden hier in Europa und in Deutschland.