9. Mai 2023 Zeitenwende als entwicklungspolitische Herausforderung

Rede von Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Abgeordnete,

als am 24. Februar letzten Jahres frühmorgens die Nachricht aus Kyjiw kam, dass Putin tatsächlich angreift, dass Raketen einschlagen und Menschen sterben – da war klar: Das ist ein furchtbarer, das ist ein historisch einschneidender Moment, ein Moment des Umbruchs für uns. Nur zwei Flugstunden von hier entfernt, mitten in Europa, versucht ein Staat gewaltsam seinen Nachbarn zu erobern, koste es, was es wolle. Menschenleben, Zerstörung, Verzweiflung: all das ist den Herrschenden im Kreml egal. Und wenn man heute die Reden dazu hört, ist es wirklich unerträglich.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat es drei Tage später in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag auf den Punkt gebracht: „Wir erleben eine Zeitenwende.“

Im Fokus der Debatten stehen dabei häufig sicherheits- und außenpolitische Fragen, vor allem natürlich zur militärischen Rüstung und Abwehr. Ich will heute Abend mit Ihnen eine weitere, zentrale Perspektive auf die Zeitenwende diskutieren: Es geht nämlich auch um die entwicklungspolitische Dimension.

Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges zeigen, wie sehr globale Entwicklungen unser Leben, unsere Sicherheit, unseren Alltag in Deutschland beeinflussen. Und nicht nur hier, sondern in vielen Ländern in unserer globalisierten Welt. Als Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gilt meine Aufmerksamkeit zum Beispiel der Ernährungssicherheit. Durch die Schockwellen der russischen Aggression – so hat es António Guterres genannt – wird diese für Millionen Menschen in Afrika, Teilen Asiens und Lateinamerikas in Frage gestellt. Armut und Hunger nehmen zu und bilden den Nährboden für neue gewaltsame Konflikte - mit Gefahren für Frieden und Stabilität weltweit.

Genau hier setze ich mit meiner Politik an: mit einer entwicklungspolitischen Sicht auf die sicherheitspolitische Situation. Entwicklungspolitik ist – in diesem Verständnis – nachhaltige Sicherheitspolitik. Sie fragt nicht nur nach Sicherheit im Sinne der Abwesenheit von Gefahr. Sondern sie beschäftigt sich mit der Frage, wie wir die globale Ordnung so gestalten können, dass sicherheitspolitische Krisen gar nicht erst entstehen oder in ihren Auswirkungen zumindest reduziert werden.

Ich werde zunächst auf diesen nachhaltigen Sicherheitsbegriff eingehen und wo wir als Weltgemeinschaft bei der Umsetzung stehen. Daraus ergeben sich die Fragen und Herausforderungen, mit denen sich die Entwicklungspolitik im Kontext der Zeitenwende beschäftigt. Anschließend reiße ich kurz vier konkrete Lösungsansätze meiner Politik an.

Grundlage für eine entwicklungspolitische Perspektive auf die Zeitenwende ist der Begriff der nachhaltigen Sicherheit. Er umfasst neben der militärischen Sicherheit die menschliche Sicherheit: also die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und gutes Leben führen zu können, ohne Hunger, ohne Armut. Ein Leben in einer sozial gerechten Gesellschaft, die demokratisch verfasst ist. Ein Leben mit gleichen Rechten und Chancen für alle Menschen. Ein Leben in Gesellschaften, die offen gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen sind.

Um das zu erreichen, ist präventives Handeln notwendig. Ziel ist, bessere Lebensvoraussetzungen für die Menschen vor Ort zu schaffen, damit militärische Mittel gar nicht erst eingesetzt werden müssen. Das ist mit nachhaltiger Sicherheit gemeint.

Leider müssen wir konstatieren: Die Weltgemeinschaft ist heute, zur Halbzeit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, weit davon entfernt, ihre selbst gesteckten Ziele im Kampf gegen Armut, Hunger und Ungleichheit zu erreichen. Dieser negative Trend zeichnete sich schon vor der russischen Aggression gegen die Ukraine ab. Insbesondere die Covid-19-Pandemie hat viele Entwicklungsfortschritte zum Erliegen gebracht oder gar rückgängig gemacht. Corona hat zudem autoritäre Tendenzen forciert und vielfach zivilgesellschaftliche Handlungsräume eingeschränkt. Die Folgen des Überfalls auf die Ukraine haben diesen generellen Abwärtstrend nochmals verschärft. Wenn es uns – also dem Globalen Süden und dem Globalen Norden – nicht gelingt, diesen Negativtrend gemeinsam umzukehren, dann steigt das globale sicherheitspolitische Fieberthermometer weiter an.

Die Entwicklungspolitik arbeitet in dieser Lage an Lösungen für gleich mehrere Fragen, nämlich: Wie lassen sich Demokratie, Frieden und Sicherheit stärken? Wie beugt man der weiteren Zerstörung natürlicher Ressourcen vor? Wie kann man verhindern, dass Interessenskonflikte angesichts schwindender Ressourcen wie Wasser und fruchtbarem Boden gewaltsam ausgetragen werden? Was muss getan werden, was müssen wir in der deutschen Entwicklungspolitik anders machen, damit wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Transformationsprozesse sozial gerecht gestaltet werden?

Meine Antwort darauf lautet: mehr soziale Sicherheit für alle Menschen weltweit. Aktuell ist rund die Hälfte der Menschen auf sich allein gestellt, wenn sie zum Beispiel ihr Einkommen oder ihr Zuhause verliert: Vier Milliarden Menschen haben keine soziale Sicherung. Dabei wissen wir doch hier in Deutschland genau: Wo ein soziales Netz aufgespannt ist, kommen alle besser durch die Krise. Soziale Sicherungssysteme verhindern, dass Menschen in die Armut abrutschen und stärken ihre Widerstandskraft und die ganzer Gesellschaften. Insbesondere tragen sie dazu bei, Ungleichheiten zu verringern. Deshalb unterstützt mein Ministerium unsere Partnerländer beim Auf- und Ausbau von sozialer Sicherung.

Eine weitere zentrale Rolle der Entwicklungspolitik in der Zeitenwende sehe ich im sozial gerechten Umbau von Gesellschaften hin zur Klimaneutralität. Der Globale Norden ist der Hauptverursacher der Klimakrise. Aber die größten Lasten werden von den Schwächsten in den Ländern des Globalen Südens getragen. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung für uns hier im Globalen Norden. Die globale Energiewende hin zu nachhaltigen Energieformen und die Dekarbonisierung unserer Gesellschaften dürfen nicht zu einer einseitigen Verteilung der Chancen und Risiken des nachhaltigen Wandels führen. Neben dem Austausch von Wissen und Technologien ist es daher von zentraler Bedeutung, beim klimaneutralen Umbau in unseren Partnerländern auf sozialen Ausgleich und gerechte Übergänge zu achten. Konkrete Beispiele, wie wir als Regierung diese „Just Transition“ entwicklungspolitisch begleiten, sind die „Just Energy Transition Partnerships“, zum Beispiel mit Südafrika oder Indonesien. Deutschland unterstützt Länder dabei, aus der Kohle auszusteigen und erneuerbare Energien auszubauen und dabei sozial gerechte Strukturen aufzubauen und alle Beteiligten einzubeziehen. Wir wollen, dass Arbeitsplätze in Zukunftsindustrien geschaffen werden. Und wir wollen, dass die Länder schrittweise unabhängiger von fossilen Energiequellen werden. Das ist klimaschützend und sozial gerecht zugleich.

Der Strukturwandel kann jedoch nur gelingen, wenn er von Frauen mitgestaltet wird. Dort, wo Frauen mitentscheiden und mitprofitieren, sind Gesellschaften gerechter, wirtschaftlich erfolgreicher und damit widerstandsfähiger. Das Ziel meiner feministischen Entwicklungspolitik ist deshalb, gleiche Rechte für alle Menschen zu erwirken, strukturelle Ungleichheiten zu beseitigen und Diskriminierung abzuschaffen. Es geht um die drei großen „R“, also gleiche Rechte, Repräsentanz und Ressourcen von Frauen. Studien zeigen eindeutig, dass – wenn Frauen aktiv an Friedensverhandlungen beteiligt sind – die Chancen steigen, dass ein Friedensabkommen hält. Zudem ist es wahrscheinlicher, dass getroffene Vereinbarungen auch tatsächlich umgesetzt werden. Es ist doch eigentlich klar, dass man nicht auf die Hälfte der Bevölkerung, auf die Hälfte der Talente, verzichten kann. Dieses Wissen muss noch sehr viel stärker als bisher in konkrete Politik umgesetzt werden – auch das ist nachhaltige Sicherheitspolitik.

Die Zeitenwende – und das ist mein letzter Punkt – erfordert eine neue Rolle Deutschlands in den internationalen Beziehungen. Deutschland muss sich stärker entlang seiner Interessen und Werte positionieren, und das auch in seiner entwicklungspolitischen Praxis umsetzen. Dabei – und das möchte ich hier betonen – geht es nicht um eine Instrumentalisierung von Entwicklungspolitik etwa für reine Wirtschaftsinteressen. Sondern es geht um den Austausch und den transparenten Abgleich von Interessen mit anderen Ländern und Akteuren. Am besten gelingt das dort, wo ein strategischer Nutzen für Deutschland klar erkennbar ist. Dies gilt zum Beispiel für Energie- und Rohstoffpartnerschaften, oder bei nachhaltigen Lieferketten.

Eine solche werte- und interessengeleitete Politik muss allerdings Widersprüche aushalten können. Denn die Interessen der Länder des Globalen Südens entsprechen nicht notwendigerweise unseren deutschen Interessen. Die meisten Regierungen wollen Optionen haben: Ob bei Infrastruktur, bei Technologie, bei Handel oder Waffen. Grundlegende Sympathien für russische oder chinesische Ordnungssysteme spielen dabei eher weniger eine Rolle. Die deutsche Positionen klar zu kommunizieren, etwa zur russischen Aggression, aber auch zu problematischen Aspekten chinesischen Vorgehens, und dabei in einem ehrlichen und respektvollen Dialog mit Partnern und Akteuren im Globalen Süden zu bleiben, das leistet meine Entwicklungspolitik.

Antiquiertes Denken in Kategorien der „Entwicklungshilfe“ ist hier nicht zielführend. Meine vielen Gespräche vor Ort zeigen mir immer wieder, dass partnerschaftliche Zusammenarbeit essenziell ist, wenn wir langfristige und nachhaltige Veränderungen bewirken wollen. Das heißt übrigens auch, dass wir Grauzonen betreten müssen, denn die vielen globalen Herausforderungen kann die Weltgemeinschaft nur gemeinsam lösen – also müssen wir auch mit nicht-demokratischen Staaten zusammenarbeiten. Hier benennt die Entwicklungspolitik klar die Bereiche, auf die sich die Zusammenarbeit beschränkt, und macht deutlich: Kooperation gibt es nur mit klarer Haltung zu Demokratie und Menschenrechten.

Meine Damen und Herren,

Entwicklungspolitik bekämpft Konflikttreiber wie Hunger, Armut und Ungleichheit. Sie fördert Bildung, Gesundheit, die Zivilgesellschaft und damit die Demokratie. Sie sorgt für nachhaltige Sicherheit. Und deswegen ist Entwicklungspolitik auch Sicherheitspolitik.