26. April 2023 Körperliche Selbstbestimmung – Schlüssel feministischer Entwicklungspolitik

Entwicklungsministerin Svenja Schulze während ihrer Rede bei der Dialogveranstaltung „Mehr als nur ein ‚Frauenthema‘ – Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte als Schlüssel feministischer Entwicklungspolitik“ im BMZ in Berlin
Entwicklungsministerin Svenja Schulze während ihrer Rede bei der Dialogveranstaltung „Mehr als nur ein ‚Frauenthema‘ – Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte als Schlüssel feministischer Entwicklungspolitik“ im BMZ in Berlin

Rede von Ministerin Schulze bei der Dialogveranstaltung „Mehr als nur ein ‚Frauenthema‘ – Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte als Schlüssel feministischer Entwicklungspolitik“ im BMZ Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

verehrte Abgeordnete,

ich begrüße Sie herzlich zu dieser Veranstaltung hier im BMZ!

Viele von Ihnen haben Kinder. Wahrscheinlich sind auch einige Töchter im Teenageralter darunter. Machen Sie sich über die Ausbildung und den Werdegang Ihrer Töchter Gedanken? Überlegen Sie, wie Sie sie bestmöglich unterstützen können? Vielleicht sorgen Sie sich auch, wie sie jemals in Berlin eine Wohnung finden wird?

Vermutlich sind das einige der Gedanken, die Sie als Teenager-Eltern haben. Niemand von Ihnen – da bin ich mir sicher – denkt bereits an die Hochzeit Ihrer Kinder. Warum sollten Sie auch? Ihre Töchter haben ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie werden ihre Partnerin oder ihren Partner selbst wählen. Wenn die Mädchen morgens aufwachen, denken sie an die Schule, ihre Freunde, das Fußballtraining oder den Musikunterricht. Gleichzeitig wachen Millionen von Teenager-Mädchen in einer anderen Realität auf: Die einer Ehefrau und einer Mutter. 12 Millionen Mädchen werden jedes Jahr als Kinder verheiratet – mehr als dreimal so viel wie die Einwohnerzahl Berlins. Heirat und Mutterschaft beenden ihre Kindheit und meist auch ihre Ausbildung, die über ihre Zukunft entscheidet.

Und nicht nur das: Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sind nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen für Mädchen im Teenageralter weltweit. Jugendliche – sowohl Mädchen als auch Jungen – haben oft keinen Zugang zu den Diensten und Informationen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, die sie benötigen. Sie wachsen in Unwissenheit über ihren Körper und ihre Rechte auf. Das Recht, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen, wird ihnen damit genommen.

Wie dramatisch das ist, habe ich gerade in Niger und Mali erlebt. Eine junge Filmemacherin hat berichtet, wie es ist, wenn man als Mädchen nicht weiß, was mit dem eigenen Körper passiert. Wenn das eine Art Blackbox ist, vor der man Angst hat. Sie macht deshalb kurze Handyvideos, mit denen sie diese Themen erklärt.

Es sind Themen wie diese, die der Begriff – „Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ – zusammenfasst. Sie haben alle eins gemeinsam: Sie sollten überall auf der Welt selbstverständlich sein. Körperliche Selbstbestimmung muss selbstverständlich sein – für alle.

Doch das ist noch lange nicht der Fall. Körperliche Selbstbestimmung ist nicht selbstverständlich für ein schwangeres Mädchen im Teenageralter, das von der Schule geworfen und von seiner Familie ausgegrenzt wird. Körperliche Selbstbestimmung ist nicht selbstverständlich für die Frau, die während der Wehen stundenlang laufen muss, um ein Krankenhaus zu erreichen. Körperliche Selbstbestimmung ist nicht selbstverständlich für die Ehefrau, die ihre Verhütungspillen vor ihrem Mann versteckt, um noch eine ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden.

Frauenrechte sind Menschenrechte. Gesundheit, körperliche Selbstbestimmung und soziale Sicherung lassen sich aus den universellen Menschenrechten ableiten. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Frauen und Mädchen ein selbstbestimmtes Leben führen und ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Daran werden sie leider oft gehindert:

Die jüngst veröffentlichten Zahlen der Vereinten Nationen besorgen mich sehr. Die Anzahl der Mütter, die bei der Geburt ihres Kindes sterben, bleibt trotz medizinischen Fortschritts gleich.

  • Mädchen werden millionenfach durch soziale und kulturelle Barrieren davon abgehalten, die Schule zu besuchen oder einen Abschluss zu machen. Viele Frauen haben keinen Zugang zu Sozial- und Gesundheitsdiensten.
  • Frauen und Mädchen, die eine Schwangerschaft vermeiden möchten, haben nur beschränkten Zugang zu Verhütungsmitteln. Und sind sie erst einmal unfreiwillig schwanger, wird es noch schwieriger.
  • Mehr als 60 Prozent der unbeabsichtigten Schwangerschaften weltweit enden in einem Schwangerschaftsabbruch. Je nach Situation und nationalen Gesetzen finden diese häufig illegal oder in unsicheren medizinischen Verhältnissen statt. Dies ist eine Tragödie, weil unsicher durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche weltweit eine der Hauptursachen für Muttersterblichkeit sind. Frauen müssen ihr Recht auf einen sicheren Schwangerschaftsabbruch umsetzen können!
  • Und ihr Recht, gewaltfrei leben zu können: Täglich erfahren Frauen überall auf der Welt Gewalt in der Partnerschaft. In vielen Ländern schafft der Staat es nicht, Frauen davor zu schützen.

Wie können wir als Gesellschaft diese Situation verändern? Wie kann körperliche Selbstbestimmung und der Zugang zu Gesundheitsdiensten für Frauen verbessert werden? Wir müssen Mädchen und Frauen stärken. Und zwar mit Blick auf die 3 R: Wir müssen ihre Rechte, Ressourcen und Repräsentanz stärken. Wenn Frauen und Mädchen in der Lage sind, selbstbestimmt zu entscheiden, wann sie mit wem schwanger werden wollen, dann verbessert dies ihre Chancen, die Schule abzuschließen oder eine Arbeit zu finden. Es ist wahrscheinlicher, dass sie ihr eigenes Einkommen erwirtschaften. So können sie für ihre Familie sorgen und einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Sie können sich Gesundheitsdienste leisten. Sie können teilhaben. Und das macht die Gesellschaften gerechter, nachhaltiger und erfolgreicher. Darum geht es mir bei der feministischen Entwicklungspolitik.

Gesundheit und Rechte für Frauen sind dafür eine Grundvoraussetzung und entsprechend groß ist unser Engagement als Entwicklungsministerium. Mit jährlich 100 Millionen Euro unterstützen wir Mädchen und Frauen in über 20 Partnerländern unter anderem in ihrem Zugang zu umfassender Sexualaufklärung, modernen Verhütungsmitteln und professionell betreuten Geburten. Im vergangenen Jahrzehnt konnten sich so mehr als 37 Millionen Paare vor ungewollten Schwangerschaften schützen und viele Mädchen und Frauen konnten ihren Bildungs- und Berufsweg fortsetzen. Diese BMZ-Initiative heißt zukünftig „Selbstbestimmte Familienplanung und reproduktive Gesundheit für alle“.

Leider hakt es an vielen Stellen. Ein großes Problem ist der Mangel an Gesundheitspersonal, das Leistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit erbringen kann. Schlüsselfiguren sind hier die Hebammen. Indem mein Ministerium sie stärkt und ihre Expertise fördert, wird die Gesundheit von Frauen verbessert und die Müttersterblichkeitsrate gesenkt. Dadurch unterstützen wir auch die Gesundheitssysteme in den Gemeinden unserer Partnerländer. Gleichzeitig rütteln wir an traditionellen Geschlechternormen und geben gut ausgebildeten Frauen die Möglichkeit, Führungsrollen in ihren Gemeinschaften zu übernehmen. Ein Beispiel ist Nepal, wo erstmals eine professionelle Ausbildung von Hebammen im Land initiiert wurde. Oder in Togo, wo die Qualität der Hebammenarbeit durch vielfältige Aus- und Fortbildung entscheidend verbessert werden konnte. Und wir investieren auch in innovative digitale Lösungen, zum Beispiel Fortbildungen von Hebammen über Apps oder den Einsatz von Drohnen in Malawi. Damit werden lebensrettende Medikamente an entlegene Gesundheitszentren und Gemeinden geliefert.

Besonders viel Engagement braucht es in Krisenzeiten. Denn auch während Pandemien, in Kriegen und auf der Flucht werden Frauen schwanger und bringen ihre Kinder zur Welt. Sie brauchen dann umso dringender Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und müssen vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt werden. Im Libanon beispielweise fördert mein Ministerium Basisgesundheitsdienste mit Fokus auf schwangere und stillende Frauen und deren Familien. Dort werden Fachkräfte ausgebildet, es gibt Safe Spaces und Mutter-Kind-freundliche Räume. Außerdem werden Impfungen subventioniert. Ein anderes Beispiel ist Niger. Dort unterstützt das BMZ Familien, damit die Mädchen in der Schule bleiben. Und es trägt zur Finanzierung solider Gesundheitsdienste bei.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

vom Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt über den dringenden Zugang zu medizinischer Betreuung bis hin zum Recht auf sichere Schwangerschaftsabbrüche:

Heute geht es darum, wie wir die Rechte und die Gesundheit von Frauen und Mädchen verbessern können. Das ist nicht nur ein von Tabus geprägter Bereich, das ist vor allem eine Mammutaufgabe! Diese Aufgabe kann nur gemeinsam gelingen. Deshalb freue ich mich, dass Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft heute hier zusammenkommen. Denn auch eine starke Frau kann ein Mammut nicht alleine erlegen.