27. September 2022 Rede von Entwicklungsministerin Svenja Schulze zur Eröffnung der Konferenz „Feminist Development Policy – Transforming International Cooperation

Entwicklungsministerin Svenja Schulze während ihrer Rede auf der internationalen BMZ-Konferenz "Feminist Development Policy – Transforming International Cooperation" am 27. September 2022

Entwicklungsministerin Svenja Schulze während ihrer Rede auf der internationalen BMZ-Konferenz „Feminist Development Policy – Transforming International Cooperation“ am 27. September 2022 in Berlin

Entwicklungsministerin Svenja Schulze während ihrer Rede auf der internationalen BMZ-Konferenz Feminist Development Policy – Transforming International Cooperation am 27. September 2022 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort! Die Originalrede in englischer Sprache finden Sie hier.

Hochverehrte Gäste,
liebe Åsa Regner,
sehr geehrte Panelist*innen,
sehr geehrte Teilnehmende,

als ich vor wenigen Wochen in Bolivien und Kolumbien war, habe ich viele Menschen getroffen, Projekte gesehen und Gespräche geführt. Vieles war wirklich beeindruckend und geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. So zum Beispiel die Geschichte von Eulalia Luango, eine der „Madres Buscadores“ – der suchenden Mütter, die in Kolumbien jahrzehntelang nach ihren entführten Angehörigen suchte. Sie hat mir auch von der Gewalt und den Bedrohungen bei der Suche berichtet, die sie durch Behörden und durch das Militär erlitt, die sie zum Schweigen bringen wollten. Sie ist trotzdem aktiv geworden und engagiert sich bis heute. Eulalia Luango ist ein Beispiel für die vielen starken Frauen weltweit, die sich Gewalt gegen Frauen entgegenstellen. Und die Zusammenarbeit mit Kolumbien ist ein Beispiel für feministische Entwicklungspolitik. Indem wir die Frauen stärken und helfen, dass die Opfer gefunden werden, tragen wir zur Versöhnung der Gesellschaft bei. Aber das reicht noch nicht.

Wie Frauen auch in den schwierigsten Situationen für ihre Rechte kämpfen, das beeindruckt mich zutiefst. Und es zeigt: Wenn man Länder partnerschaftlich voranbringen will, dann geht das nur unter Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen. Unzählige Studien zeigen, dass es weniger Hunger, weniger Armut und mehr Stabilität gibt, wenn Frauen gleichberechtigt Verantwortung tragen.

Für mich ist das hier und heute deshalb eine ganz besondere Konferenz. Anfang des Jahres habe ich im deutschen Parlament angekündigt, dass das Bundesentwicklungsministerium eine feministische Entwicklungspolitik verfolgen wird. Heute nun kommen wir erstmals in einer großen Runde zusammen: Partner und Partnerinnen aus der ganzen Welt, internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen. Wir werden hier über feministische Entwicklungspolitik diskutieren, uns austauschen und aktiv werden. Ich freue mich sehr über die riesige Resonanz.

Die Ankündigung, dass wir eine feministische Entwicklungspolitik verfolgen werden, hat in Deutschland sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Von begeisterter Zustimmung über Skepsis bis hin zu Anfeindungen war alles dabei – als Feministin kennt man das.

Dabei ist Feminismus keine neue Erfindung. Feministische Bewegungen sind über Jahrhunderte über die Kontinente hinweg entstanden, gewachsen und haben dabei eine ungeheure Kraft entwickelt:

  • So zum Beispiel die chilenische Frauenbewegung, die der wirtschaftlichen Ausbeutung von Frauen im 19. Jahrhundert den Kampf ansagte.
  • Oder die indigenen Frauen von Sierra Leone, die schon Ende des 18. Jahrhunderts ihr Wahlrecht erstritten – welches sie mit der britischen Kolonialisierung wieder verloren.

Und auch heute gibt es weltweit viele, die sich für die Abschaffung von Ungleichheiten einsetzen: Zum Beispiel die Frauen aus der MENA-Region, die sich für eine gleiche Beteiligung von Frauen bei Friedensprozessen in den Krisenländern der Region einsetzen und von deren beeindruckender Arbeit wir später noch mehr hören werden. Oder etwa die internationale Klimagerechtigkeitsbewegung, die die Auswirkungen der Klimakrise auf Frauen oder auf indigene Bevölkerungsgruppen in den Blick nimmt.

Und gerade in den letzten Tagen richten sich unsere Augen einmal mehr auf den Iran. Auf die mutigen Demonstrationen der starken Frauen. Sie stellen selbstbewusst durch ihren Protest die Systemfrage. Wir stehen solidarisch an ihrer Seite im Kampf für Selbstbestimmung!

Feminismus ist eine dauerhafte Aufgabe. Jede Zeit braucht ihre Antworten – und so ist es auch hier. Gleichstellungsfragen stellen sich im 21. Jahrhundert auf verschiedenste Weise; teilweise ganz elementar wie beim Thema weibliche Genitalverstümmlung; teilweise diffiziler, beispielsweise bei der Ausgestaltung vorhandener Rechte oder dem Zugang zu Bildung.

Ich will Feminismus auf allen Ebenen voranbringen. Und ich danke Ihnen, dass Sie heute hier sind und sich mit mir dafür einsetzen.

Feminismus ist eine Grundüberzeugung. Und Gleichstellung ist ein Menschenrecht. Das Ziel meiner feministischen Entwicklungspolitik ist eine Gesellschaft der Freien und Gleichen; eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben teilhaben und in der sie ihre Menschenrechte wahrnehmen können. Es geht also um weit mehr, als eine „Politik von Frauen für Frauen“. Es geht um Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Und davon profitieren alle! Auch die Männer.

Wir wollen dafür bestehende Machtstrukturen, diskriminierende Normen und Rollenbilder hinterfragen und dabei unterstützen, sie zu überwinden. Dazu gehört auch, unsere eigenen Strukturen zu hinterfragen und zu erkennen, wo sich Frauenfeindlichkeit, koloniale Kontinuitäten oder rassistische Denkmuster festgesetzt haben. Wir haben es selbst in der Hand, Strukturen zu verändern, diejenigen Stimmen zu stärken, die bislang zu wenig gehört werden, und unseren Blick um die Perspektiven zu erweitern, die wir zu wenig sehen.

Die Herausforderungen sind groß. Bis heute gibt es kein Land, in dem Menschen vollständig gleichberechtigt und gleichgestellt sind.

Im Gegenteil, in den meisten Ländern haben Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männer. Frauen verrichten circa zwei Drittel der unbezahlten Pflege- und Hausarbeit. Aber der feministische Ansatz geht über Geschlechterungerechtigkeit hinaus – er nimmt Ungleichheiten insgesamt in den Blick. So werden Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, Indigene und viele andere Gruppen bei Entscheidungsprozessen häufig unzureichend beteiligt. Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, Hautfarbe oder anderen Gründen sind weit verbreitet.

All das ist zutiefst ungerecht und es verhindert ein Leben in Selbstbestimmung und in Freiheit. Genau deshalb müssen wir da ran!

Empirische Forschungen zeigen zudem: Diese Ungleichheiten haben einen hohen Preis! Sie kosten Wirtschaftskraft, Stabilität und haben häufig Gewalt und gewaltsame Konflikte zur Folge. Eine feministische Entwicklungspolitik, die auf Gleichstellung abzielt, hilft dabei, Gesellschaften insgesamt widerstandfähiger, stabiler und friedlicher zu machen – und auch ökonomisch prosperierender.

Wo Frauen gleichberechtigt beteiligt und vertreten sind, sind die Ergebnisse besser. Gleichwohl stehen wir noch immer vor großen Herausforderungen, die umfassende Antworten verlangen. Diese wollen wir gemeinsam entwickeln.

Ich verfolge dabei einen sogenannten intersektionalen Ansatz, der die Verschränkungen und Wechselwirkungen von Diskriminierung adressiert.

Die feministische Entwicklungspolitik, die grundsätzlich alle Ungleichheiten in den Blick nimmt, verknüpfe ich mit ganz konkreten Zielen: Das Bundesentwicklungsministerium wird seine Arbeit in Zukunft konsequent auf Geschlechtergleichstellung ausrichten, da Frauen und Mädchen die größte Bevölkerungsgruppe darstellen, die trotzdem aber leider immer noch marginalisiert wird. Bis 2025 werden wir schrittweise den Anteil der bilateralen Finanzmittel des Entwicklungsministeriums, die gezielt oder mittelbar einen Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter leisten, von jetzt circa 60 Prozent auf 93 Prozent erhöhen. Dabei werden wir unsere Mittel für Vorhaben, die explizit Geschlechtergleichstellung fördern, verdoppeln.

Das ist ehrgeizig und braucht die Mitarbeit all unserer Partnerinnen und Partner: die Zivilgesellschaft, die politischen Stiftungen und die Kirchen. Viele von Ihnen engagieren sich bereits seit vielen Jahren für mehr Geschlechtergleichstellung. Ich freue mich darauf, mit Ihnen gemeinsam voranzugehen. Dabei werden wir ganz gezielt die patriarchalen Machtstrukturen und diskriminierenden Rollenbilder angehen, die Frauen an der gleichberechtigten Teilhabe hindern: Wir sprechen mit männlichen Entscheidungsträgern, wir sprechen mit Werteträger*innen, die soziale Normen beeinflussen können. Wir werden Überzeugungsarbeit dafür leisten, dass die ganze Gesellschaft profitiert, wenn Politikentscheidungen nicht nur von Männern und für Männer getroffen werden und endlich die strukturellen Ursachen von Diskriminierung angegangen werden.

Denn Frauen sind starke Akteurinnen und damit alles andere als nur Opfer von Diskriminierung. Sie haben Wissen, das für die ganze Gesellschaft genutzt werden sollte. Sie sind auch Agents of Change – zum Beispiel bei der Anpassung an die Folgen des Klimawandels. Sie sind diejenigen, die die Felder bestellen, sie wissen, welche Pflanzen Trockenheit und Hitze am besten verkraften, oder wie eine Mischwirtschaft die Bodenfruchtbarkeit erhalten kann. Auf der Flucht sind es oft die Frauen, die ihre Familien versorgen und schützen müssen. Und wo Frauen wirtschaftlich und gesellschaftlich stark sind, profitiert die ganze Familie: mehr Bildung, bessere Ernährung, mehr Gesundheit.

Gesundheit ist ein wichtiges Stichwort. Die körperliche Selbstbestimmung ist ein fundamentales Recht, das immer noch fast der Hälfte aller Frauen weltweit verwehrt wird. Und um das zu sehen, müssen wir gar nicht so weit schauen. Da reicht ein Blick auf die deutsche Debatte zur Strafbarkeit von Information über Abtreibung. Jahrzehntelang haben wir dafür kämpfen müssen, dass es Ärztinnen und Ärzten nicht unter Androhung von Strafe bis hin zu Gefängnis verboten ist, öffentlich über die Möglichkeit von Abtreibung zu informieren. Erst die jetzige Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz hat den in Deutschland bekannten Paragraphen 219a abgeschafft.

Die körperliche Selbstbestimmung ist essenziell für das individuelle Wohlergehen und die Gesundheit von Mädchen und Frauen. Sie verbessert zudem die Chancen, dass sie die Schule abschließen und einen Beruf ergreifen können. Ihre Aussicht auf ein eigenes Einkommen und die Versorgung der gesamten Familie steigen. Und damit auch ihre Aussicht auf soziale Teilhabe und Repräsentanz. Damit „sie entscheidet“.

SheDecides ist auch der Name einer Bewegung, die sich auf internationaler Ebene für die sexuellen und reproduktiven Rechte von Mädchen und Frauen einsetzt.
Ich bin stolz Teil dieser Bewegung zu sein: Als SheDecides Champion werde ich mich gemeinsam mit weiteren Champions, einschließlich Alvaro Bermejo, der heute auch anwesend ist, für die Rechte von Mädchen und Frauen einsetzen.

Eine feministische Politik zeichnet sich durch internationale Kooperation und durch breite und starke Allianzen aus. Dafür ist insbesondere UN Women ein zentraler Partner. Wir arbeiten eng zusammen: zur Anerkennung und Umverteilung unbezahlter Pflegearbeit; für die Rechte und den Schutz von Migrantinnen; für die Bekämpfung und die Prävention von Gewalt gegen Frauen und dafür, dass Mädchen und Frauen in relevante Entscheidungsprozesse in Friedensprozessen und in Konfliktsituationen eingebunden werden. Gerade auch in der MENA-Region. Dort kooperieren wir zu dem Thema eng mit UN Women. Deutschland wird UN Women dieses Jahr für diese wichtige Arbeit 32 Millionen Euro bereitstellen. Das ist der höchste Beitrag, den das Bundesentwicklungsministerium bisher in einem Jahr an UN Women zugesagt hat.

Die MENA-Region ist ein Beispiel dafür, wie die Arbeit mit feministischen Ansätzen und für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Krisen- und Konfliktkontexten funktionieren kann. Die gleichberechtige Teilhabe von Frauen und insgesamt inklusive Gestaltung von Friedensprozessen ist ein zentraler Faktor für die nachhaltige Umsetzung von Friedensabkommen. Ich bin davon überzeugt, dass ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung der MENA-Region in einer stärkeren Teilhabe von Frauen und Mädchen liegt, nicht nur in Friedensprozessen, sondern auch darüber hinaus.

Das Entwicklungsministerium hat daher eine europäische Initiative angestoßen, die Jobs für Frauen und junge Menschen in der MENA-Region schaffen soll. Die Kommission, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland wollen hierfür 2,8 Milliarden Euro investieren. Damit sollen mehr Frauen in reguläre Beschäftigung kommen. Derzeit hat nur jede fünfte Frau in der MENA-Region einen Job – ein enormer wirtschaftlicher Verlust! Um die Beschäftigungsquote zu erhöhen, baut das BMZ mit dem regionalen WoMENA-Vorhaben Frauennetzwerke und eine bessere Karriereberatung für Frauen auf. Ich bin sehr gespannt auf das Panel II zur MENA-Region, das uns allen die Gelegenheit geben wird, von den Erfahrungen und dem Wissen aus der Region zu lernen.

Liebe Gäste,

feministische Entwicklungspolitik ist notwendig und richtig. Es braucht dabei mehr als nur Worte und gute Absichten. Das Entwicklungsministerium arbeitet bereits intensiv an konkreten Umsetzungsmöglichkeiten. Die heutige Veranstaltung ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu unserer neuen Strategie „Feministische Entwicklungspolitik“. Sie wird unsere Leitlinie zur strategischen Umsetzung sein. Ihr Input war und ist zentral dafür.

Ich möchte mit Ihnen gemeinsam feministische Entwicklungspolitik gestalten. Die Rechte, Repräsentanz und Ressourcen von Frauen und Mädchen stärken.

Dazu braucht es Entschlossenheit, Überzeugungskraft und den Willen, sich immer wieder Diskriminierungen und deren strukturellen Ursachen entgegenzustellen.

Ich bin sicher, Sie hier im Raum und auch die digital zugeschalteten Engagierten haben diese Entschlossenheit und auch den Mut, der dazu notwendig ist.

Ich freue mich auf inspirierende Diskussionen und wünsche Ihnen und uns allen einen lebhaften Austausch.