8. September 2022 Zeitenwende und Globaler Süden – Auswirkungen auf die internationale Zusammenarbeit

Rede von Bundesministerin Svenja Schulze bei der Veranstaltung „SPD-Fraktion im Dialog“

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Gäste,
lieber Rolf,

Olaf Scholz hat am 27. Februar wahrlich einen Anstoß gegeben. In seiner Regierungserklärung nur wenige Tage nach Putins Angriff auf die Ukraine sprach er von einer Zeitenwende – und diese erleben wir nun in vielerlei Hinsicht. In der Öffentlichkeit wird der Begriff der Zeitenwende meist damit verbunden, dass wir die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro enorm gestärkt haben. Dass es die erste Ampelregierung auf Bundesebene ist, die Militärausgaben in dieser Größenordnung umsetzt, hat sich vermutlich niemand von uns vorstellen können. Aber natürlich ist es richtig.

Und dieser Krieg verändert noch weit mehr für uns. Die sozialen Herausforderungen, die mit der Beschleunigung der Energiewende verbunden sind, sind enorm. Wir haben das gerade auf der Fraktionsklausur diskutiert. Und es wandelt auch die internationale Politik, die Entwicklungspolitik.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert geopolitische Begebenheiten und Konstellationen. Internationale Bündnisse zeigen jetzt ihre Stärke. Gleichzeitig werden wir mit der Einsicht konfrontiert, dass nicht alle auf der Welt unsere Perspektive teilen.

Entwicklungsländer haben berechtigte Eigeninteressen, denen sie folgen. Und diese Interessen sind nicht unbedingt mit unseren identisch.

Die Arbeit in Netzwerken, das miteinander im Gespräch bleiben, wird daher noch wichtiger werden – gerade auch mit Ländern des Globalen Südens.

Spätestens die globale Krise der Corona-Pandemie hat uns gezeigt: Wir in Europa sind nur sicher, wenn alle Gesellschaften sicher sind. Auch andere Eruptionen in der Welt haben nahezu unmittelbar auch Wirkungen in Europa.

Die SPD setzt in der Sicherheitspolitik auf einen Dreiklang aus Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Die Entwicklungspolitik verfolgt einen langfristigen Ansatz, ist partnerorientiert und setzt auf eine starke lokale Verankerung – deshalb ist sie in diesem Dreiklang zentral: Entwicklungspolitik verbessert die Perspektiven der Bevölkerung, stabilisiert Systeme, schafft Ordnungen. Gleichzeitig kann Entwicklungspolitik gerade durch die Vernetzung vor Ort schnell reagieren und die Folgen von Konflikten, Fragilität und Gewalt abfedern. So können wir verhindern, dass andere Länder und das internationale System weiter destabilisiert werden. Entwicklungspolitik ist daher integraler Bestandteil von Sicherheitspolitik, denn nachhaltige Entwicklung legt die Grundlage für Frieden und Sicherheit. Sie unterstützt die Sicherheit von Menschen in unseren Partnerländern.

Mir ist wichtig, dass wir Sicherheit ganzheitlich begreifen. Wenn ich von Sicherheit spreche, dann spreche ich von menschlicher Sicherheit. Diese umfasst weit mehr als körperliche Unversehrtheit. Ich werde an drei Beispielen aufzeigen, welche Folgen ich daraus für die internationale Zusammenarbeit ziehe.

Schon Willy Brandt sagte: „Wo Hunger herrscht, ist auf die Dauer kein Friede“ – und damit hat er noch heute Recht. In den vergangenen Jahrzehnten konnten einige wichtige Fortschritte zur Beendigung des Hungers in der Welt erzielt werden. Doch die globalen, sich überlappenden und wechselseitig verstärkenden Krisen haben uns zurückgeworfen. Ernährungssicherheit ist heute schwieriger denn je umzusetzen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die ohnehin schon angespannte Lage weiter verschärft. Russland und die Ukraine bedienten vor dem Krieg gemeinsam circa 20 Prozent der weltweiten Mais- und 30 Prozent der Weizenexporte. Der kurzfristige Wegfall führt gerade in bereits dürregeplagten Ländern zu einer humanitären Katastrophe. In Äthiopien, Somalia und im Kongo ist die Zahl der Hungernden rapide angestiegen. Weltweit leiden 828 Millionen Menschen unter Hunger – deutlich mehr als noch vor der Corona-Pandemie. Dies zeigt die Fragilität einer Welt der Abhängigkeiten.

Die Entwicklungspolitik leistet einen wichtigen Beitrag für die Ernährungssicherheit. So habe ich im Kreise der G7 gemeinsam mit der Weltbank das Bündnis für globale Ernährungssicherheit gegründet. Es soll dafür sorgen, dass Hilfe dort ankommt, wo sie am dringendsten benötigt wird. Dazu unterstützt das Bündnis die Globale Krisenreaktionsgruppe für Ernährung, Energie und Finanzen der Vereinten Nationen und koordiniert Hilfsmaßnahmen. Es hat zudem auch langfristige Ziele: Über eine Plattform zum Wissens- und Erfahrungsaustausch wird es allen beteiligten Ländern ermöglicht, ihre Agrar- und Ernährungssysteme widerstandsfähiger und nachhaltiger zu machen.

Das Bündnis generiert also einerseits finanzielle Mittel, aber – und das ist durch den russischen Angriffskrieg so wichtig geworden – es bringt Länder und Institutionen mit einem gemeinsamen Ziel zusammen, um Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Ernährungssicherheit ist ein elementares Grundbedürfnis. Darüber hinaus brauchen Menschen wirtschaftliche und soziale Sicherheit – eine Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Behinderung oder Arbeitsunfällen; Unterstützung durch Kindergeld oder Altersrente. Etwas mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung – rund vier Milliarden Menschen – hat keinen Zugang zu solcher sozialer Sicherung. In Afrika sind es sogar über 80 Prozent.

Alle Menschen brauchen verlässliche Perspektiven. Deutschland leistet durch seine Entwicklungszusammenarbeit hier wertvolle Beiträge, sie unterstützt beim Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Damit werden Armut und Hunger aktiv bekämpft.

So kann sich beispielsweise eine Kleinbäuerin darauf verlassen, dass sie im Falle einer Dürre oder eines Starkregens aufgrund des Klimawandels nicht in Armut fällt, sondern vom sozialen Sicherungsnetz aufgefangen wird. Das gibt ihr Planungssicherheit und Zuversicht, zu investieren. Es ermöglicht ihr, ihre Kinder auf die Schule zu schicken. Der Armutszirkel wird durchbrochen.

Genau solch ein Programm wird mit deutscher Unterstützung beispielsweise in Malawi umgesetzt. Gemeinsam mit der EU unterstützt das BMZ das dortige Grundsicherungsprogramm („Social Cash Transfer Programme“) in der Hälfte der Bezirke Malawis. Mehr als 580.000 Personen werden dadurch abgesichert!

Unser Engagement gilt es nun zu verstetigen, wir müssen uns global massiv um mehr soziale Sicherung für die Menschen kümmern. Einerseits, um die sozialen Auswirkungen der aktuellen Krisen abzufedern. Andererseits, um unsere Partnerländer nachhaltig zu stärken, sodass sie besser für zukünftige Krisen gerüstet sind, insbesondere auch für die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels.

Der Klimawandel ist ein besonders deutliches Beispiel für den erweiterten Sicherheitsbegriff. Umweltsicherheit beschreibt den Schutz vor Gefahren, die dem natürlichen Lebensumfeld entspringen. Bei der Suche nach Lösungen geht es dann auch um die Verantwortung der verursachenden Staaten. Deutschland stellt sich dieser Verantwortung.

Als Weltbevölkerung haben wir ein Interesse daran, dass auch der Globale Süden sich der Klimaneutralität verschreibt. Beim Aufbau einer klimaneutralen Industrie jedoch droht einigen Bevölkerungsgruppen oder Regionen ein sozialer und wirtschaftlicher Abstieg – weil er beispielsweise mit Arbeitsplatzverlusten oder gar dem Wegfall ganzer Branchen einhergeht. In Deutschland kennen wir das aus der Lausitz oder dem Rheinischen Revier. Das BMZ fördert daher im Rahmen von Klimapartnerschaften Maßnahmen, um betroffenen Menschen alternative Lebensperspektiven und Einkommensmöglichkeiten zu bieten. Wir engagieren uns für eine klimaneutrale Transformation, die sozial gerecht gestaltet wird – für Just Transition.

Klimaschäden können vor allem die Ärmsten in Armut treiben. Sie brauchen unsere Solidarität, um damit umzugehen. Deswegen setze ich mich bei der nächsten Klimakonferenz insbesondere für einen Klimarisiko-Schutzschirm gegen Klimaschäden ein. So wie ich es eben am Beispiel des Sicherheitsnetzes für die Kleinbäuerin aus Malawi beschrieben habe. Im Moment arbeiten wir gemeinsam mit den besonders verwundbaren Entwicklungsländern an der Ausgestaltung einer solchen Klima-Sicherheit.

Die Idee ist, dass der Schutzschirm schon steht, bevor die Krise eintritt – etwa mit Vorsorgeplänen der Entwicklungsländer, Versicherungen und mit schnellen Finanzierungssystemen, die kurzfristig an die Betroffenen auszahlen, wenn Schäden durch Dürren, Wirbelstürme oder ähnliches entstehen.

Liebe Gäste,
liebe Genossinnen und Genossen,

wir sehen: Bereits an diesen Beispielen lässt sich zeigen, dass eine starke Entwicklungspolitik einen wichtigen, sogar elementaren Beitrag zur Sicherheit leistet.

Die deutsche Sicherheitspolitik braucht gerade nach der Zeitenwende einen ganzheitlichen Ansatz. Sie muss dazu beitragen können, die menschliche Sicherheit nachhaltig zu verbessern – und zwar umfassend. Die Entwicklungszusammenarbeit tut genau dies. Unsere Handlungsmaxime muss Agieren statt Reagieren sein: Konflikten vorbeugen, Demokratien schützen und fördern, den sozialen Zusammenhalt stärken – zum Beispiel durch den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Vorsorge rettet Menschenleben und ist bei weitem effizienter und erfolgreicher als Interventionen in bestehende Konflikte. Präventive Entwicklungspolitik ist nachhaltige Sicherheitspolitik.

Ich freue mich auf die Diskussion.