28. Januar 2020 Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller bei der Vorstellung des Dokumentarfilms „Jiyan – Die vergessenen Opfer des IS“ von Düzen Tekkal

in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,

dem Irak und seinen Anrainerstaaten droht eine erneute militärische Eskalation. Dabei waren die Herausforderungen auch ohne die aktuelle Krise enorm. Fast 1,5 Millionen Binnenvertriebene und 250.000 syrische Flüchtlinge benötigen dringend Hilfe.

Denn der systematische Vernichtungsfeldzug des Islamischen Staates wirkt fort. 2017 konnte der IS zwar territorial zurückgeschlagen werden, doch das volle Ausmaß von Leid und Zerstörung wird erst langsam sichtbar. Allein 300.000 Jesidinnen und Jesiden sind binnenvertrieben, ihre Lebensgrundlagen größtenteils zerstört.

Die Gräueltaten gegen sie und andere Menschen im Nord-Irak sind beklemmend und gut dokumentiert. Dabiq, das Online-Magazin des IS, hatte auch in seiner deutschen Ausgabe hier offen zu Mord, Vergewaltigung und Versklavung aufgerufen.

Doch wie geht es jetzt weiter mit den Menschen in Nordost-Irak? Wie geht es besonders mit den Frauen weiter? Viele Frauen und Mädchen werden bis heute vermisst. Andere haben ihre gesamte Familie verloren. Papst Franziskus hat vor vier Wochen in seiner Neujahrsansprache Gewalt gegen Frauen als „Schändung Gottes“ bezeichnet. Doch egal, zu welchem Gott wir beten, wir müssen verstehen: Das Schicksal der Jesidinnen im Nord-Irak ist kein bloßer Nebeneffekt des Krieges. Und die Gewalttaten reichen weit über die unmittelbare sexuelle Dimension hinaus.

Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe! Ihr Ziel ist es, den Glauben, die Kultur, den Zusammenhalt der Gesellschaft des Gegners systematisch und unwiederbringlich zu zerstören.

Wir müssen helfen, die physischen, emotionalen und menschenrechtlichen Folgen aufzuarbeiten. Damit die Frauen und ihre Familien sich eine Zukunft aufbauen können. Dieser Dokumentarfilm trägt zu dieser Aufarbeitung bei. Er verschafft den Opfern Gehör und Respekt.

Das ist wichtig, denn Zeugnis abzulegen über das oft Unaussprechliche erfordert großen Mut. Auch Najlaa Matto, eine überlebende jesidische IS-Gefangene und Protagonistin des Films, legt stellvertretend für Tausende anderer irakischer Frauen, im Film Zeugnis ab. Um der Gerechtigkeit willen, und um den Weg zurück ins Leben zu finden. Doch was können wir hier in Berlin, in Deutschland, in Europa tun, um den Menschen zurück ins Leben zu helfen?

Unsere erste Antwort lautet: Wir bleiben vor Ort und bauen mit auf. Wir investieren in soziale Infrastruktur: durch Verbesserung der Wasser- und Sanitärversorgung, durch den Ausbau von dezentralen Gesundheitszentren, durch die Modernisierung des Azadi Notfallkrankenhauses, durch Bau oder Modernisierung von Schulen. Damit haben wir einen messbaren Beitrag zur Verbesserung von gut achteinhalb Millionen Menschen erbracht. Ich konnte mir davon bei meinen Besuchen selbst einen Eindruck verschaffen.

Auch oder gerade in der aktuellen Situation müssen wir verlässliche Partner sein. Es muss weiter in den Wiederaufbau und auch in die Versorgung der vielen syrischen Flüchtlinge investiert werden, damit radikale Kräfte nicht weiter erstarken.

Die zweite Antwort lautet: Wir helfen Perspektiven schaffen. Durch psychosoziale Betreuung, durch Bildungsangebote, oder durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen. So können die Menschen anfangen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Unsere dritte Antwort: Wir setzen uns für politische Lösungen ein. Die Herausforderungen sind komplex, und Fortschritte werden länger brauchen als beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Doch nur politische Lösungen ermöglichen den Menschen in ihrer Heimat eine Zukunft.

Der Katalog offener Fragen ist lang. Unter anderem geht es um die Klärung der Sicherheitsverantwortung für die umstrittenen jesidischen Gebiete, Klärung der Verwaltungshoheit, Zustimmung aller Seiten zur Entminung und die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, also die Dokumentation von Aussagen, die Bergung und Identifizierung der Opfer, Einleitung von Strafermittlungen und Verfahren gegen die Täter.

Um dauerhaften Frieden zu erreichen, müssen Frauen einbezogen werden in Friedensverhandlungen, Konfliktschlichtung und Wiederaufbau. Das haben die Vereinten Nationen schon vor 20 Jahren festgestellt.

Die Vierte Antwort ist deshalb: Wir schauen hin und hören zu. Auch wenn das Hinsehen, wie gleich bei der Vorführung von „Jiyan“ schmerzt und verstört. Denn nur durch Hinsehen und Zuhören zeigen wir Respekt und Solidarität mit den Opfern. Nur durch Hinsehen und Zuhören verstehen wir, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist. Und dass wir die Menschenrechte verteidigen müssen!

Der Dokumentarfilm „Jiyan“ schafft aus entsetzlichen Ereignissen eine Kultur der Erinnerung.

„Jiyan“ heißt Leben! Ich wünsche Frau Matto und allen Betroffenen, dass sie möglichst bald den Weg zurück in ihr Leben finden. Ich danke allen Beteiligten und höre Ihnen zu!