12. Februar 2020 Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller zu 40 Jahren Nord-Süd-Bericht
Es gilt das gesprochene Wort!
Eine Videoaufzeichnung der Rede finden Sie hier (Externer Link).
Eine druckbare Version der Rede (PDF 89 KB, barrierefrei) finden Sie hier (Externer Link).
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!
Der Nord-Süd-Bericht von Willy Brandt ist ein Schlüsseldokument globaler Entwicklung. „Das Überleben sichern – eine Welt“: Mit diesem Titel leitete Willy Brandt einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik ein. Es ging nicht mehr um Entwicklungshilfe der Industrieländer, sondern um eine Politik und Bedingungen des gemeinsamen Überlebens. Willy Brandt entwickelte eine Strategie zur Gestaltung der Globalisierung. Man bedenke: Das war 1980, vor 40 Jahren. Ich erinnere mich. Das war damals unser Einstieg in die Politik.
Ich zitiere aus der Einleitung Willy Brandts zum Nord-Süd-Bericht: „Ob es uns passt oder nicht: Wir sehen uns mehr und mehr Problemen gegenüber, welche die Menschheit insgesamt angehen, so dass folglich auch die Lösungen hierfür in steigendem Maße internationalisiert werden müssen. Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen – Krieg, Chaos, Selbstzerstörung – erfordert eine Art 'Weltinnenpolitik', die über den Horizont von Kirchtürmen, aber auch nationale Grenzen weit hinausreicht. Dies vollzieht sich bisher nur im Schneckentempo.“
Willy Brandt wollte den Nord-Süd-Ausgleich voranbringen. Die Einleitungsworte von Willy Brandt könnten und müssten heute zum Beispiel bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder hier im Plenum Leitschnur sein. Deswegen freue ich mich, dass ich hier als Auftaktredner sprechen darf.
So beauftragte Willy Brandt Minister Erhard Eppler bereits 1971 mit der Vorlage einer ersten entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesregierung. Erhard Eppler war ein Vordenker deutscher Entwicklungspolitik. Seine Anstöße sind auch für mich bis heute grundlegend für die deutsche Entwicklungspolitik. Ich hatte vor seinem Tod Gott sei Dank Kontakt mit ihm. Es ist mir als derzeitigem deutschen Entwicklungsminister sehr wichtig, ihm als langjährigem Entwicklungsminister ein ehrendes Gedenken, Respekt und Anerkennung des Parlaments zu erweisen.
Der Nord-Süd-Bericht machte klar: Um Überleben zu sichern, geht es um eine stärkere Integration der armen Länder in die Weltwirtschaft – das liegt alles 40 Jahre zurück! –, es geht gleichwertig um ein stärkeres finanzielles Engagement der reichen Nationen. Die Ausgaben für Entwicklung – so steht es im Nord-Süd-Bericht – sollten bis 1985 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens steigen – 0,7 Prozent bis 1985 – und bis 2000 auf ein Prozent. Das war damals, vor 40 Jahren, die Vorgabe. Wenn die Unterstützung in diesen Feldern, auch die politische Unterstützung, auch noch heute genauso stark wäre wie diejenige in anderen Feldern – ich nenne die Verteidigungspolitik –, dann hätten wir das Ein-Prozent-Ziel längst erreicht.
Willy Brandt forderte weniger Geld für Rüstung und deutlich mehr für Entwicklung auszugeben. Denn für ihn war Entwicklungspolitik Friedenspolitik. „Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer kein Friede“, so Willy Brandt in seiner Rede 1973 vor den UN. Wissen Sie, ich komme gerade aus dem Sudan und war im Nordosten Nigerias. Dort herrscht Hunger, und das ist der Auslöser für Bürgerkrieg, für Terror, für Instabilität. Wie recht Willy Brandt doch hatte und hat! Sein Nord-Süd-Engagement entfaltete nachhaltige Wirkung. Es folgte die von Olof Palme geleitete Unabhängige Kommission für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen, und es folgte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem sogenannten Brundtland-Bericht.
40 Jahre sind seitdem vergangen. Die weltweite Bilanz heute ist leider ernüchternd. Die Ausbeutung von Mensch und Natur in globalen Lieferketten geht weiter. Heute vor einer Woche, am Mittwoch, stand ich im Nigerdelta: Tausende von Hektar verseuchte Mangroven, verseuchte Böden. Dort beginnt die Lieferkette Öl. Wenn Sie in Deutschland, etwa in Berlin, an die Tankstelle fahren, wollen Sie solche Verhältnisse nicht am Anfang, an der Quelle der Ölausbeutung.
75 Millionen Kinder arbeiten heute für uns in Minen, auf Plantagen, in der Textilwirtschaft. Die Rüstungsausgaben steigen weltweit – entgegen dem, was Willy Brandt damals als Ziel hatte –, zwischenzeitlich auf 1.700 Milliarden. Die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit stagnieren bei weltweit 170 Milliarden. 1:10 beträgt dieses Missverhältnis, das es zu ändern gilt.
Ja, 40 Jahre später steigt die Zahl der Hungernden wieder an. All dies muss uns motivieren. Wir alle sind gefordert, den Kampf gegen Hunger und Armut, für Frieden und Gerechtigkeit im Sinne von Willy Brandt, Erhard Eppler, Gro Harlem Brundtland, Olof Palme als moralische, politische und menschliche Verpflichtung ein Leben lang zum Grundanliegen unserer Politik zu machen.
Vielen herzlichen Dank.