30. September 2020 Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller zum Haushaltsgesetz 2021

Es gilt das gesprochene Wort!
Eine Videoaufzeichnung der Rede finden Sie hier (Externer Link).
Eine druckbare Version der Rede (PDF 92 KB, barrierefrei) finden Sie hier (Externer Link).

Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Deutschland erfüllt im Jahr 2020 aller Voraussicht nach zum ersten Mal die jahrelang angestrebte 0,7-Prozent-ODA-Quote. Darauf dürfen wir Entwicklungspolitiker ein Stück weit stolz sein.

Dankbar bin ich vor allem der Kanzlerin und den Finanzministern, also Wolfgang Schäuble und Olaf Scholz. Olaf Scholz hat Wort gehalten: Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union, das mit einem Corona-Sofortprogramm in Höhe von drei Milliarden Euro auf diese Herausforderung reagiert hat. Ich danke meinem Kollegen Sascha Raabe von der SPD-Fraktion ganz besonders, aber auch Ecki Rehberg, dem Sprecher im Haushaltsausschuss, und der CDU/CSU-Fraktion, dass dies gelungen ist.

Wir Entwicklungspolitiker haben es nicht immer so ganz leicht. Aber es ist doch schön: Wir denken nicht nur an uns – das ist das Zeichen Deutschlands an Europa, an Brüssel –, sondern auch an die Entwicklungsländer, die sich durch die Coronakrise in schwierigster Notlage befinden. Gestern fand ein informelles EZ-Ministerratstreffen mit David Beasley statt, der uns dazu berichtet hat. Längst ist die Coronapandemie in diesen Ländern zu einer Wirtschafts-, Hunger- und Armutskrise mit dramatischen Ausmaßen geworden.

Der Haushalt des BMZ hat sich seit 2013 verdoppelt. Auch das ist ein starkes Signal Deutschlands, Herr Kekeritz. Wenn auch die Amerikaner diesen Weg gehen würden, könnten wir viele Krisenregionen der Welt anders bedienen. Die Notlagen sind groß. Deshalb können wir nicht akzeptieren, dass die Hilfen gekürzt werden, wie jetzt beispielsweise im Jemen. Ich sage das ganz bewusst. Erinnern wir uns, was dort vor fünf Jahren passiert ist, und jetzt werden die Hilfszusagen, zum Beispiel die Nahrungsmittelunterstützung, für den Jemen um 30 Prozent gekürzt. Warum? Weil die Gelder nicht da sind.

Wir könnten – das vorausblickend – mit einem UN-Nothilfefonds von zehn Milliarden Euro weltweit den Tod durch Hunger und fehlende Medikamente verhindern. Warum tun wir das nicht? Ich höre und sehe, wie die Milliarden hin- und hergeschoben werden. Hier geht es um zehn Milliarden Euro, aber zugleich um Leben und Tod. Das System der internationalen Hilfe muss verändert, muss reformiert werden. Ich bin der Meinung, dass das System umgestellt werden muss, weg von der Krisenintervention – es kann nicht sein, dass erst gestorben werden muss, dass wir erst die Kinder an den Stränden liegen sehen müssen –, hin zu einer Krisenprävention. Es gilt, vorsorgend zu investieren. Jetzt zu handeln, ist viel vernünftiger, als zu warten.

Die Folgen der Krisen werden zur Destabilisierung von Staaten führen – die Verteidigungsministerin ist weg –; es geht hier um den vernetzten Ansatz. Dann können wir vonseiten der Verteidigung, also mit der Bundeswehr, nach Mali, in die Sahelzone. Diese Krisen führen jetzt zur Destabilisierung ganzer Staatenregionen. Bürgerkriege, Elend und Fluchtbewegungen werden die Konsequenz sein.

Durch Corona werden derzeit 100 Millionen Menschen in absolute Armut zurückgeworfen. Absolute Armut heißt: Ich wache in der Früh auf und weiß nicht, wovon ich leben soll oder was die Kinder zu essen bekommen. – In den Entwicklungsländern sterben Menschen an Hunger, an fehlenden Medikamenten und Impfungen. Die UN schätzt, dass dieses Jahr eine Million Menschen zusätzlich an Malaria, HIV, Tuberkulose sterben werden. Warum? Weil die Impfprogramme ausgesetzt sind, weil die Medikamente fehlen. Das sind die dramatischen Folgen dieser Coronapandemie in Afrika, aber auch in Lateinamerika. Wir müssen helfen! Die Coronakrise erfordert Soforthilfen. Und dazu gehört auch – darüber werden wir diskutieren – ein Schuldenerlass für die Ärmsten mit klaren Vorgaben und Reformen.

Die Kanzlerin hat kürzlich bei der UN gesagt, dass die Impfstoffe weltweit zugänglich sein müssen, so sie vorhanden sind. Ich begrüße dies außerordentlich. Die Kanzlerin hat 100 Millionen Euro für den Kauf von Impfdosen für Entwicklungsländer bereitgestellt. Das ist Solidarität aus Deutschland.

Ich spreche von der Solidarität aus Deutschland. Aber wo bleibt die Solidarität der Europäischen Union? Ich habe es gestern mit klaren Worten gesagt: Die EU muss sich wesentlich stärker engagieren. Wir dürfen nicht nur auf uns selber schauen. 2.000 Milliarden Euro – das ist eine große Zahl mit vielen Nullen – umfassen die Hilfs- und Stabilisierungsprogramme der Europäischen Union für die 27 Staaten nach innen. Die Reichen für die Reichen, gut so. Aber gleichzeitig – Sie hören richtig – kürzt die Europäische Union den Haushaltsansatz für die nächsten sieben Jahre in der Kategorie „Entwicklung, humanitäre Hilfe, Afrikapolitik, Fluchtursachenbekämpfung“. Das passt nicht zusammen. Diese Haushaltskürzungen müssen vom Europäischen Parlament korrigiert werden!

Gleichzeitig legt die Kommission die neuen Vorschläge zur Migration und zum Asylsystem vor. Was fehlt, ist eine europäische Komponente zur Stärkung der Hilfen zur Fluchtursachenbekämpfung. Wir können nicht nur in Frontex investieren. Wir müssen auch dort investieren, von wo aus sich die Menschen aus Not und Elend und Hunger auf den Weg machen.

Wir wissen, was zu tun ist; aber es fehlt weltweit an Entschlossenheit. Bei der Umsetzung der SDG-Agenda hängen wir weit zurück. Bei der Erfüllung des Pariser Klimaabkommens sind nur zwölf Staaten auf Kurs. Nur zwölf Staaten erfüllen das, was sie umsetzen sollten, unter anderem bei der Verwirklichung – ich sage das heute bewusst – der Biodiversitätskonvention zur Verhinderung eines globalen Artensterbens.

Wir alle stehen zur Einhaltung von Menschenrechten und zum Verbot von Kinderarbeit. Seit 70 Jahren gibt es die UN-Konvention, und trotzdem schuften auch heute 25 Millionen Kinder in Steinbrüchen, auf Plantagen, in der Textilwirtschaft. Sie werden weltweit ausgebeutet von Konzernen, die international tätig sind, auch hier in Deutschland. Freiwilligkeit führt hier auch nach 75 Jahren nicht zum Ziel.

Es ist deshalb höchste Zeit, jetzt ein Lieferkettengesetz auf den Weg zu bringen. Hubertus Heil, dem ich sehr dankbar bin, und ich haben die Eckpunkte erarbeitet und mit einer Mittelstandskomponente versehen. Wir wollen Handwerkern und Mittelständlern die Angst nehmen, die zum Teil bewusst geschürt wird, dass sie die gesetzlichen Vorgaben eines Sorgfaltspflichtengesetzes nicht umsetzen könnten. Ich sage Ihnen: Wer jetzt noch sagt, das gehe nicht, der will ganz einfach nicht.

Und es geht. Ich habe heute ein Hemd mit dem Grünen Knopf angezogen. Dieses Hemd wurde in Bangladesch produziert. Ich habe die Firma von Lidl, die diese Standards vor Ort umsetzt, besucht. Bangladesch ist nicht aus der Welt; da gibt es Computer, Telefone, und man kann hinreisen. So habe ich mir die Firma angeschaut. Dieses Hemd ist nach bestimmten Standards produziert. Frauen und Männer bekommen einen vernünftigen Lohn, von dem sie leben können, der existenzsichernd ist. Sie bekommen den gleichen Lohn. Die Lohnlisten sind ausgehängt. Es gibt eine Beschwerdebox. Es gibt soziale und ökologische Standards.

Nun sagt der zuständige Branchenverband: Das geht nicht. Ein Hemd hat 140 Arbeitsschritte. Wie soll das mit der Zertifizierung gehen? – Hier steht der lebende Beweis; dieses Lidl-Hemd beweist es. Das zweite Argument ist: Das können wir nicht finanzieren. Das ist zu teuer. – Dieses Hemd kostet 11,98 Euro und schaut doch gut aus. Das ist der Beweis für all diejenigen, die das Lieferketten- und das Sorgfaltspflichtengesetz madig machen. Es geht für Kleine und für Große. Wer sagt, das gehe nicht, der will nicht. Das ist eine ganz klare Aussage.

Es gibt einen weltweiten Trend zur Nachhaltigkeit. Die Wirtschaft weiß, dass die ESG-Kriterien – Umwelt, Soziales, Unternehmensverantwortung – im internationalen Maßstab längst Basis für Investoren sind. Das wird auch die Zukunft sein. Global tätige Firmen bekommen kein Geld mehr von Investoren, von Anlegern, wenn sie diese grundlegenden Standards nicht erfüllen. „Made in Germany“ steht für höchste Qualität und sollte und muss auch für eine globale Verantwortungsethik von Politik und Wirtschaft stehen.

Vielen Dank.