7. Dezember 2018 Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller zum 11. Deutschen Nachhaltigkeitspreis
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
mitten im polnischen Steinkohlerevier – in Kattowitz verhandeln die Nationen gerade darüber, wie globale Dekarbonisierung gelingen kann.
Kohle und Erdöl haben die Energie freigesetzt, die heute unsere Zivilisation antreibt: Elektrizität, Mobilität, Handel, moderne Landwirtschaft, medizinischer Fortschritt. Kohle und Erdöl sind auch Ursache dafür, dass Klimaschutz heute eine der Überlebensfragen der Menschheit ist.
Und im globalen Dorf hängt alles mit allem zusammen: unser Reichtum mit der Ausbeutung Afrikas, unser Konsumverhalten mit dem Weltklima. Was gestern weit weg schien, betrifft uns heute unmittelbar. Wir müssen entschlossen auf die globalen Herausforderungen antworten. Dafür ist Nachhaltigkeit der Schlüssel.
Was bedeutet Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit ist Substanzerhalt: ökologisch, ökonomisch, sozial und kulturell. Nicht mehr verbrauchen, als nachwächst oder sich regenerieren kann, Kreislaufwirtschaft. Nachhaltigkeit ist auch Gerechtigkeit: gegenüber Menschen in anderen Teilen der Welt und gegenüber kommenden Generationen. Eine Frage von Chancengleichheit, sozialem Zusammenhalt, Frieden.
Denn Industrialisierung hat Wohlstand gebracht. Aber um einen hohen Preis. Energie aus Kohle, Mobilität mit Erdöl, Bauen mit Zement und Stahl hat den Klimawandel verursacht. Seit 1990 ist der Kohlendioxid-Ausstoß um 60 Prozent gestiegen. Die Subventionen für fossile Brennstoffe betragen 6 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts.
Nachhaltig wären erneuerbare Energien, klimafreundliche Mobilität, Bauen mit Holz. Und statt fossiler Subventionen: Finanzierung der SDGs – dafür wären rund 3 bis 4 Prozent des Welt-BIP nötig.
Die globale Arbeitsteilung hat Aufschwung gebracht – allein in China wurden 600 Millionen Menschen aus der Armut befreit. Die Welt ist vernetzt wie nie, aber gleichzeitig wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. 10 Prozent besitzen 90 Prozent des Vermögens. 2 von 3 Menschen arbeiten „prekär“; in Nähfabriken, auf Plantagen, als Tagelöhner. Und Entwicklungsländer verlieren durch Kapitalflucht mehr, als an ODA hineinkommt. Nachhaltig wären faire Handelsregeln, faire globale Lieferketten, Bekämpfung von Korruption und Steuerflucht. Nachhaltig wären soziale Sicherungssysteme, die Menschen gegen Risiken absichern, wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Klimafolgen.
Die moderne Ernährungswirtschaft steigert Erträge: Der Fischfang mit Schleppnetzen etwa bringt mehr Fang. Aber zwei Drittel der Fischbestände sind überfischt. Die Intensiv-Landwirtschaft mit Dünger, Maschinen, Großbetrieben und der globale Handel mit Nahrungsmitteln bringen Nährstoffbilanzen aus dem Gleichgewicht. 80 Prozent der Soja-Ernte aus Südamerika gehen für Viehzucht und damit letztlich für Fleischkonsum nach Europa – das bringt hier Nitratbelastung, dort ausgelaugte Böden. Allein für Deutschlands Konsumgüter werden über 100 Millionen Hektar Land gebraucht. Drei Viertel davon liegen außerhalb Deutschlands.
Fazit: Wir sprengen die planetarischen Grenzen – und leben auf Kosten anderer. Unsere Vorfahren verbrauchten als Jäger und Sammler eine Tonne Natur pro Kopf und Jahr. Heutige Industriegesellschaften verbrauchen 50 Tonnen. Substanz-erhaltend wären 8 Tonnen. Das globale Bevölkerungswachstum erhöht den Ressourcen-Druck: 1 Milliarde waren wir Anfang des 19. Jahrhunderts, fast 10 Milliarden werden es bis 2050 sein.
Wir brauchen ein neues Zivilisationsmodell – für den Schutz des Welt-Gemeinwohls und für globale Chancengerechtigkeit.
Alle Länder haben Entwicklungsbedarf: Das ist der Kern der Agenda 2030. Die einen müssen Armut überwinden – ohne natürliche Lebensgrundlagen zu zerstören. Die anderen wollen ihren Wohlstand erhalten – müssen aber dabei nachhaltig werden.
Was muss dafür passieren?
Wir müssen erstens Jahrhundertsprünge möglich machen!
Für unsere Partnerländer geht es längst nicht mehr um nachholende Entwicklung. Wir müssen dazu beitragen, dass sie das fossile Zeitalter überspringen können.
Die Zukunft entscheidet sich in Asien, Afrika. Denn die großen Ressourcenverbraucher leben nicht mehr nur in den „alten“ Industrieländern. In den letzten 50 Jahren hat sich der Konsum verzehnfacht. Und inzwischen hat die Hälfte der Menschheit zur globalen Mittelschicht aufgeschlossen. Bis 2030 werden geschätzte 90 Billionen US-Dollar in Infrastruktur investiert. Ob fossil oder klimafreundlich, wird darüber entscheiden, ob Klimawandel sich bremsen lässt oder nicht. Deshalb ist Entwicklungspolitik heute: globale Nachhaltigkeitspolitik.
Wir fördern saubere Energie von Anfang an: 70 Länder haben Einspeisevergütungen nach deutschem Vorbild – die Welt-Energiewende. Afrika kann grüner Kontinent werden!
Wir setzen uns ein für faire globale Lieferketten. Das Textilbündnis ist ein Schritt. Notfalls brauchen wir gesetzliche Regelungen! Wir fördern zukunftsfähige Landwirtschaft mit traditionellem Wissen, neuen Methoden.
Wir unterstützen bei Klimaschutz und -anpassung über NDC-Partnerschaft, Klimaversicherungen. Und wir haben gerade in Kattowitz 1,5 Milliarden Euro für den Grünen Klimafonds zugesagt.
Wir verbessern Chancengleichheit: über Bildung, soziale Sicherung, geteiltes Wissen. Vor allem Frauen sollen mehr teilhaben.
Zweitens: Der Markt muss Nachhaltigkeit fördern!
Faire Produktion darf kein Nachteil sein! Das müssen wir im WTO-Recht und in bilateralen Abkommen der EU verankern. Dafür, wie wir das unter anderem im Wettbewerbsrecht regeln könnten, gibt es Vorschläge!
Immer mehr der 500 Millionen europäischen Konsumenten fordern faire und nachhaltige Produkte in der EU. Europäische Handelspolitik muss einen Beitrag zu den Zielen der Agenda 2030 leisten – so heißt es in der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Globalisierung von Ende Oktober.
Auch immer mehr Unternehmen rufen nach Regeln, nach verlässlichen Rahmenbedingungen, damit sich Investitionen in Dekarbonisierung lohnen.
Finanzmärkte müssen der realen Wirtschaft dienen. Dafür braucht es Transparenz, Regeln und Anreize für Nachhaltigkeit. Ich möchte weiter über eine Finanztransaktionssteuer diskutieren.
Wir müssen endlich ehrlich rechnen: Unser Wachstum ist nicht zukunftsfähig – und nicht einmal wirtschaftlich: Klimaschutz könnte 26 Billionen US-Dollar mehr Welt-Bruttosozialprodukt bringen. Und Schäden an Gemeinschaftsgütern sind in Wirklichkeit unterschlagene Kosten. Allein die Folgeschäden unseres bisherigen Wirtschaftens kosten rund 11 Prozent des globalen BSP: Krankheitskosten durch Abgase, Gifte, Verlust von Wäldern, Böden, Artenvielfalt. Das taucht auf keinem Preisschild auf! Der Nobelpreisträger William Nordhaus sagt: Rechnet man ehrlich, vernichten manche Branchen sogar mehr Werte, als sie schaffen.
Wir brauchen so etwas wie einen globalen Preis für Kohlendioxid – dann kann der Markt Antrieb sein für Effizienz und Innovation. Denn wir schützen unsere Unternehmen nicht, indem wir fossile Technik fördern! Immer mehr Investoren ziehen ihr Geld aus Anlagen zurück, in denen Klimarisiken stecken: Ölkonzerne, Autobauer, Chemie, Luftfahrt. Munich Re, Allianz steigen aus der Kohle aus. Tesla hat in den USA mit seinem „Model 3“ BMW und Mercedes überholt.
Drittens: Standards müssen Standard werden, weltweit!
Standards für Menschenrechte, Umwelt, Arbeit müssen global gelten. Denn Nachhaltigkeit heißt auch: Schutz globaler Güter und Verantwortung für das globale Gemeinwohl!
Deutschland muss vorangehen. Kants universalistische Ethik sagt: Lebe so, dass dein Lebensstil für alle gelten könnte. Aber wir externalisieren ökologische und soziale Kosten – die Folgen tragen andere. Wir sollten nicht mit dem Finger auf Länder zeigen, die jetzt ihren Anteil an Rohstoffen und Wohlstand beanspruchen. Wir müssen selbst nachhaltiger wirtschaften!
Wir waren mal Vorreiter: Energiewende, Recycling, Umwelttechnologien. Heute steht das größte Solarthermische Kraftwerk in Marokko. Die meisten Elektroautos baut China. Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft, hoch innovatives Technologieland. Wir müssen zeigen: Es gibt gutes Leben mit nachhaltigem Lebensstil!
Vieles passiert schon hier in Deutschland: in innovativen Unternehmen, in Bürgerinitiativen wie Energie-Genossenschaften, städtischer Landwirtschaft, bei nachhaltigem und energieeffizienten Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen. Viele Beispiele werden nachher beim Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet.
Politik kann den Rahmen setzen für Fairness und Nachhaltigkeit, mit Anreizen und Regeln, über Steuersysteme und internationale Zusammenarbeit. Aber die Gesellschaft muss bereit sein das mitzutragen. Auch Konsumenten tragen Verantwortung: Nicht immer nach dem Billigsten greifen, auf Langlebigkeit, Recyclingfähigkeit achten. Siegel für Nachhaltigkeit, Fairness nutzen. Nachhaltigkeit muss kulturelle Revolution des 21. Jahrhunderts werden!
In wenigen Tagen feiern wir den 70. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte. Nachhaltige Entwicklung ist die Weiterentwicklung: Alle Menschen auf diesem Planeten und zukünftige Generationen sollen gleiche Entwicklungschancen haben, innerhalb der planetarischen Grenzen. Dafür kämpfen wir gemeinsam.
Sie hier beim 11. Deutschen Nachhaltigkeitstag treiben Lösungen voran! In Ihren Unternehmen, in den Kommunen, der Zivilgesellschaft, in der Forschung. Dafür meinen herzlichen Dank!