27. November 2018 Globalisierung gerecht gestalten

Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller beim Tagesspiegel Forum Globalisierung in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Globalisierung – das sind weltweite Ströme von Kapital, Waren, Dienstleistungen, Menschen und Ideen. Heute heißt Globalisierung, dass im Hamburger Hafen das weltgrößte Containerschiff liegt, mit 120 Millionen Paar Schuhen an Bord, die in Asien für den europäischen Markt hergestellt wurden.

Heute heißt Globalisierung: 90 Prozent unserer Kleidung kommen aus Asien, die Bananen aus Ecuador. In Ihrem Shampoo ist Palmöl aus Indonesien, Sie trinken Kaffee aus Westafrika. Globalisierung bedeutet: 80 Prozent der Soja-Ernte von Brasilien oder Argentinien wird für unsere Viehzucht, unseren Fleischkonsum in Europa, produziert.

Globalisierung heißt außerdem: Fünf Billionen US-Dollar werden allein am Devisenmarkt gehandelt – pro Tag! Wir brauchen jetzt endlich die Finanztransaktionssteuer, mindestens auf Derivate und Hochgeschwindigkeitshandel! Schließlich bedeutet Globalisierung auch: 150 Millionen Kinder arbeiten in Kinderarbeit für unseren Wohlstand. Eine Professorin aus Bayreuth hat berechnet, dass jeder von uns 50 Sklaven beschäftigt.

Die Welt ist vernetzt wie nie – ein globales Dorf mit Licht und Schatten.

Globalisierung schafft Chancen – dort, wo Menschen in globale Lieferketten eingebunden sind. Das sind heute eine halbe Milliarde Menschen. Paradebeispiele in diesem Zusammenhang sind die asiatischen „Tiger“: Südkorea und Ghana hatten vor 60 Jahren den gleichen Entwicklungsstand. China konnte 600 Millionen Menschen aus Armut befreien.

Globalisierung hat Jobs geschaffen: 50 Prozent mehr Menschen haben nun Arbeit, vor allem in Entwicklungsländern. Globalisierung fördert Innovation und Wissen: Die Digitalisierung ermöglicht Wissen in Echtzeit, überall auf der Welt. Innovationen verbreiten sich rasant, wie zum Beispiel M-Pesa: mobiles Banking aus Kenia gibt es jetzt auch in Rumänien, Indien und Afghanistan.

Aber die Globalisierung hat auch Schattenseiten: allen voran der Klimawandel. Der weltweite CO₂-Ausstoß ist in 30 Jahren um über 60 Prozent gestiegen. Die Globalisierung hat die Ausbeutung von Mensch und Natur verstärkt: Zwei von drei Menschen arbeiten „prekär“: in Nähfabriken, auf Plantagen, als Tagelöhner. Die weltweite Arbeitsteilung geht auf Kosten von funktionierenden sozialen Strukturen.

Es gibt eine große globale Ungleichheit: Jeder 20. Milliardär lebt in Indien, während gleichzeitig 200 Millionen Menschen dort hungern. Die, die noch nicht teilhaben am weltweiten Handel, sind immer weiter abgeschlagen – das sind viele Länder Afrikas. Und 60 Prozent der Weltbevölkerung haben nur fünf US-Dollar pro Tag – das sind 4,3 Milliarden Menschen! Auf der anderen Seite besitzen aber 10 Prozent der Weltbevölkerung 90 Prozent des Weltvermögens und 20 Prozent – wir in den Industrieländern – verbrauchen 80 Prozent der Ressourcen und verursachen zwei Drittel der Umweltbelastungen.

Die Folge der Globalisierung ist die Externalisierungsgesellschaft.

Die Globalisierung der Produktion verlagert Umweltverschmutzungen und Treibhausgase in andere Teile der Welt: Hier die billigen Produkte, dort vergiftete Flüsse und Smog.

Die Globalisierung des Kapitals führt zur Abkopplung von der realen Wirtschaft und schafft massive Ungleichheiten.

Die Globalisierung von Menschen bedeutet, dass 260 Millionen Menschen außerhalb ihrer Heimat leben. Und das sehen wir auch hier bei uns!

Die Globalisierung der Ernährung bringt Nährstoffkreisläufe aus dem Gleichgewicht: Nitratbelastung hier, ausgelaugte Böden dort.

Und die Globalisierung von Dienstleistungen bedeutet heute, dass wir überwacht und beherrscht werden von fünf globalen Digitalkonzernen.

Durch Outsourcing und Externalisierung geraten Wirtschafts- und Sozialsysteme sowie Lebensverhältnisse in Konkurrenz. Deshalb hat die neue starke Vernetzung seit den 1990er Jahren auch Gegner. Populisten nutzen sie als Rechtfertigung für Abschottung und Isolationismus. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat schon vor 20 Jahren festgestellt: „Globalisierung bedeutet, dass Konkurrenz groß- und Solidarität kleingeschrieben wird“. Und er sah in ungeregelter Globalisierung eine Gefahr für die Demokratie.

Aber Globalisierung ist keine Naturgewalt!

Die Antwort ist nicht: Abschottung. Die Antwort muss sein: Gestaltung! Wie ist Globalisierung zukunftsfähig? Das ist die soziale Frage der Gegenwart! Wir brauchen neue Antworten: Globalisierung muss gerechter werden!

Kurzfristiger wirtschaftlicher Gewinn darf nicht über Menschenrechten und Naturwerten stehen. Auch die Schwachen und das globale Gemeinwohl müssen einen Anwalt haben! Je gerechter die Vorteile verteilt sind, desto weniger Grund haben Menschen, ihr Glück anderswo zu suchen.

Erstens, die Grundlage: Globaler Markt braucht globale Regeln.

Freihandel darf keine Einladung sein, die Zukunft kommender Generationen oder der Menschen anderswo aufs Spiel zu setzen! Die Politik muss den Rahmen für Fairness und Nachhaltigkeit setzen. – Ein dickes Brett! Ein erster Schritt dazu ist, dass das Europäische Parlament fordert, die Handelspolitik der EU müsse einen Beitrag zur Agenda 2030 leisten. Denn immer mehr Menschen wollen, dass Produkte fair und nachhaltig sind.

Wir brauchen eine öko-soziale Marktwirtschaft weltweit. Standards für Menschenrechte, Umwelt und Arbeit müssen weltweit umgesetzt werden! Wir müssen Nachhaltigkeit leben – sozial, ökologisch, wirtschaftlich und kulturell. Dafür braucht es starke internationale Organisationen. Brüssel muss vorangehen. Wir brauchen eine reformierte WTO und starke Vereinte Nationen, denn Menschenrechte sind unteilbar! Und auch die Migration kann Chancen schaffen: zum Beispiel mit zeitlich begrenzten Arbeitsmöglichkeiten.

Nachhaltigkeit muss sich rechnen! Das WTO-Recht und bilaterale Abkommen der EU sollten nachhaltig produzierte Produkte bevorzugen. Ich setze mich dafür ein, dass das im Handelsabkommen zwischen der EU und Indonesien verankert wird, zum Beispiel bei Palmöl.

Wir in Deutschland haben gute Gesetze, hohe Standards – aber wir unterlaufen sie, wenn unsere Unternehmen in Bangladesch zu niedrigeren Standards billig produzieren oder in Ecuador die Bananenpreise drücken.

Zweitens: Globalisierung muss Ressourcen schonen.

Der Konsum hat sich in den letzten 50 Jahren verzehnfacht. Unser Lebensstil in den westlichen Ländern verbraucht Ressourcen von 1,7 Planeten. Das geht nur, weil die Menschen in Afrika und Indien weniger verbrauchen. Wir leben auf Kosten der Menschen in anderen Teilen der Welt! Und auf Kosten kommender Generationen.

Es muss Schluss sein mit der Externalisierung! Wir brauchen Wahrheit bei den Preisen! Wir brauchen ein Wachstumsdenken, das Umwelt- und Ressourcenverbrauch einrechnet, eine wirksame CO₂-Steuer. Die Folgen von Abgasen, giftigen Chemikalien und Treibhausgasen in der Produktion tauchen auf keinem Preisschild auf. Aber Naturverbrauch darf es nicht gratis geben! Globale öffentliche Güter wie Luft, Wasser und Klima müssen geschützt werden.

Wir brauchen drittens ein neues Wachstumsmodell.

Ein Wachstumsmodell, das sich am Welt-Gemeinwohl orientiert, statt an einem neo-liberalen Wirtschaftssystem! Wir werden jedes Jahr 80 Millionen Menschen mehr. Was ist unsere Empfehlung an Afrika oder Indien? Sollen wir sagen: Macht es wie wir?

Wir brauchen Steuersysteme, die global greifen, die Fairness und Nachhaltigkeit fördern – wie eine Finanztransaktionssteuer oder eine Digitalsteuer. Und wir brauchen mehr Teilhabe: Vor allem Frauen müssen mehr profitieren.

Werte müssen zum Fundament unseres Lebens und Tuns werden: Wir müssen Verantwortung gegenüber kommenden Generationen und für den Erhalt der Schöpfung übernehmen.

Was kann Entwicklungspolitik dafür tun?

Wir müssen Entwicklung ermöglichen und gleichzeitig die Schöpfung erhalten. Wir fördern saubere Energie von Anfang an. 70 Länder haben nach deutschem Vorbild eine Einspeisevergütung eingeführt – das ist die Welt-Energiewende! Wir setzen uns ein für faire globale Lieferketten. Das Textilbündnis ist ein Schritt in die richtige Richtung. Notfalls brauchen wir gesetzliche Regelungen! Mein Ministerium geht selbst voran, mit fairer Beschaffung, klimaneutral. Wir fördern zukunftsfähige Landwirtschaft mit traditionellem Wissen und neuen Methoden. Wir helfen beim Aufbau von Sozialsystemen: zum Beispiel in Pakistan, Indien und Indonesien, wo nun 100 Millionen Menschen erstmals krankenversichert sind. Und wir verbessern die Chancengleichheit über Bildung, Informations- und Kommunikationstechnologien und geteiltes Wissen. Damit verringern wir Gründe für Migration.

Aber auch Konsumenten tragen Verantwortung!

Greifen Sie nicht immer nach dem Billigsten, sondern achten Sie auf Langlebigkeit und Recyclingfähigkeit. Nutzen Sie die Siegel für Nachhaltigkeit und Fairness.

Politik muss Regeln für gerechte und nachhaltige Globalisierung setzen. Aber die Öffentlichkeit muss auch bereit sein, sie mitzutragen. Globalisierung ist eine Chance, wenn sie einen Interessenausgleich schafft: zwischen Starken und Schwachen, zwischen Markt und Menschen, zwischen Profit und Gemeinwohl.