8. November 2018 „Teilen statt Herrschen“

Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller beim Festakt „60 Jahre Misereor“ in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,

von der einmaligen Spendenaktion zum weltweit größten katholischen Entwicklungswerk: das sind 60 Jahre Misereor in einem Satz! Schon Kardinal Frings hatte damals in seiner Gründungs-Rede Großes vorausgesehen. Und er hat Recht behalten: Die erste Spendenaktion erbrachte 34 Millionen D-Mark für ein Leprazentrum in Indien. Inzwischen hat Misereor in mehr als 90 Ländern mit insgesamt fast sechs Milliarden Euro über 100.000 Projekte gefördert! Herzlichen Glückwunsch und großen Respekt!

Seit 56 Jahren sind wir inzwischen Partner, verlassen uns auf Sie – und waren dabei gut beraten. Über 450 Seiten lang ist allein unser aktueller Katalog an Vorhaben der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE), fast 2.400 Projekte, knapp 730 Millionen Euro.

In Zahlen nicht zu messen, aber ebenso wichtig: Ihre Stimme wurde und wird gehört. Misereors wohl aufsehenerregendster Einsatz für eine gerechtere Welt war in Südafrika, wo Sie 1985 während der Fastenaktion Apartheid und Rassismus anprangerten – fünf Jahre später kam Nelson Mandela frei! Oder im Friedensprozess Kolumbiens, wo Sie den Prozess der Landrückgabe unterstützt haben und die Stimme der Zivilgesellschaft waren, die damals nicht am Verhandlungstisch saß.

Sie haben überall auf der Welt Partner unter all den mutigen, engagierten Katholiken: In Äthiopien zum Beispiel gibt es zwar nur ein Prozent Katholiken. Aber die katholische Kirche leistet enorm wichtige Arbeit, betreibt Schulen, Kliniken, Ausbildungsstätten und unterstützt Flüchtlinge.

Egal wo ich hinkomme: Sie, die katholische Kirche, sind schon da. Kirchen sind unsere privilegierten Partner. Dies drückt sich auch in einem historischen Mittelaufwuchs im Kirchentitel aus.

Wir brauchen Sie aber nicht nur in den Krisengebieten der Welt, sondern auch als Partner für einen tiefgreifenden sozialen, kulturellen und ökologischen Wandel. Denn es hat in den letzten Jahrzehnten zweifellos global große Fortschritte gegeben: 1958, im Jahr der Gründung von Misereor, lebte über die Hälfte der Menschen in Armut. Kardinal Frings berichtet in seiner Rede: Die Lebenserwartung in Norwegen lag bei 73 Jahren, in Westdeutschland bei 66 Jahren, in Ägypten bei 33, in Indien bei nur 30 Jahren.

Heute liegt die Lebenserwartung global bei 70, in Afrika bei über 60 Jahren, was fast einer Verdopplung entspricht. In den 1950ern konnten zwei von drei Menschen nicht lesen, heute sind es weniger als 15 Prozent. Menschheitsgeißeln wie die Pocken sind ausgerottet, bei Polio sind wir kurz vorm Ziel. Die absolute Armut ist auf zehn Prozent gesunken. Diese Fortschritte gäbe es nicht ohne Misereor – und nicht ohne jeden Einzelnen von Ihnen!

Aber Ihr Imperativ „Misereor super turbam“ („Ich erbarme mich“) ist heute nötiger denn je. Denn Entwicklungserfolge drohen zu kippen: durch Klimawandel, Ressourcenknappheit, Bevölkerungszuwachs, Krisen und Kriege. Globalisierung und Digitalisierung bringen Chancen, aber auch Herausforderungen. Die globale Kooperation ist in der Krise, auch große Nationen schotten sich ab.

Entwicklung muss es für alle geben, aber in planetarischen Grenzen: Die Ziele der Agenda 2030 drängen mehr denn je. 1958 gab es rund drei Milliarden Menschen auf der Welt. Bis Mitte des Jahrhunderts werden es allein in Afrika über drei Milliarden sein. Und jeder sieht, wie wir hier leben.

„Ich erbarme mich“ muss heute heißen: „Ich übernehme Verantwortung“ für das, was in meiner Macht steht. Und wir haben Macht! Als Konsumentinnen und Konsumenten. Als Unternehmen, die in aller Welt produzieren. Als Politik-Gestaltende großer Wirtschaftsmächte. Kardinal Frings hat schon damals in seiner Gründungs-Rede von 1958 klar formuliert: „Darum muss denen ins Gewissen geredet werden, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bestimmen.“ Das ist noch heute unser Auftrag.

TEILEN statt HERRSCHEN heißt darum erstens: Strukturen verändern helfen, wo wir es können. Kardinal Frings nannte Bereiche, die heute genauso aktuell klingen wie damals: „gerechte Bodenverteilung, Schaffung von Arbeitsplätzen durch Industrialisierung“. Rechte stärken, Arbeitsplätze schaffen – dafür steht moderne Entwicklungszusammenarbeit: Steuersysteme mitaufbauen, soziale Sicherungssysteme einführen, Bodenrechte etablieren, Arbeitsplätze schaffen helfen: Der neue Entwicklungsinvestitionsfonds zum Beispiel unterstützt Unternehmen bei sinnvollen Investitionen in unseren Partnerländern.

Außerdem wollen wir globale Handelsregeln verbessern: Soziale und ökologische Standards verankern wir in Handelsabkommen, wie zum Beispiel in der Palmöl-Produktion. Wir sichern Verantwortung in globalen Lieferketten, wie durch das Textilbündnis oder das Kakaoforum: für faire Löhne, saubere Umwelt und sichere Arbeitsbedingungen. Misereor hat vor fast 50 Jahren den Fairen Handel in Deutschland mitbegründet. 1970 haben Sie in 70 deutschen Städten für gerechten Welthandel demonstriert. 1991 haben Sie den Verein „Transfair“ mitgegründet.

TEILEN statt HERRSCHEN heißt zweitens: nicht mehr auf Kosten anderer leben. Denn wir sind mitverantwortlich für globale Schäden, die unser Konsum, unsere Handels- und Wirtschaftspolitik anderswo verursachen. Misereor zeigt das ganz konkret, zum Beispiel 2016 in Ihrer Studie zu Menschenrechtsverletzungen im Kohle-Sektor in Südafrika.

Fundamental war 1996 Misereors große Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“, gemeinsam mit dem BUND, nicht umsonst die „Grüne Bibel“ genannt. Die Kernbotschaft, einfach und revolutionär: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf die Nutzung globaler Umweltgüter und auf ein Leben in gesunder Umwelt. 1978 verkauften Sie Taschen aus „Jute statt Plastik“ – und wurden bisweilen belächelt. Heute sind zehn Millionen Tonnen Plastikmüll im Meer, der Teppich im Pazifik ist vier Mal so groß wie Deutschland.

TEILEN statt HERRSCHEN heißt drittens: unser Wissen und Können teilen. Es muss ein Innovationstransfer stattfinden! Deutschland hat hier enorm viel zu teilen: Beispielsweise durch die Energiewende: 600 Millionen Afrikanern fehlt Zugang zu Strom – aber jedes Dorf hat genug Sonne und Biomasse. Das sind enorme Chancen für erneuerbare Energien. Unsere Technik, aber auch Erfahrungen – zum Beispiel Genossenschaften – können sie voranbringen. Ebenso für eine ertragreiche und nachhaltige Landwirtschaft: Monsignore Spiegel, Sie nennen Hunger „die brutalste Form von Armut“. Ich sage: „Hunger ist Mord!“ Denn eine Welt ohne Hunger ist möglich, mit modernem Know-how. Wir haben darum ländliche Entwicklung zu dem Top-Thema gemacht, das es sein muss, global. Und wir setzen es mit der SEWOH in vielen Ländern erfolgreich um, auch dank Misereor.

Wir schätzen und vertrauen Misereors Einsatz. Vor allem in Krisenländern und fragilen Staaten, wo staatliche Entwicklungszusammenarbeit noch nicht möglich ist: Zum Beispiel in Syrien, der Zentralafrikanischen Republik oder in Tschad. Mit dem regionalen Schwerpunkt auf Afrika und Nahost ist Misereor ein starker Partner bei der Umsetzung des Marshallplans mit Afrika und in Flüchtlings-Aufnahmeländern.

Wir brauchen Sie weiter als kritische Partner im Dialog über die künftige Ausrichtung der Entwicklungspolitik, so wie Sie es waren bei Zukunftscharta, beim Textilbündnis oder dem Marshallplan. Die Agenda 2030 ist unsere gemeinsame Richtschnur. Die kommenden Jahre sind entscheidend! Im Grunde müssten wir uns wünschen, Misereor möge sich bis zum 75. Geburtstag überflüssig gemacht haben.

Unsere Unterstützung dafür haben Sie!