16. Oktober 2018 Rede von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller beim Future Food Forum

Es gilt das gesprochene Wort!

1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel jedes Jahr landen nicht auf dem Teller, sondern im Müll. Oder sie verderben nach der Ernte. – Ein Viertel davon würde reichen, um alle Hungernden zu ernähren. Vieles mehr ist nicht hinnehmbar: Drei von vier Unterernährten leben in Ländern mit Nahrungsmittel-Überschuss! Vier von fünf Hungernden leben auf dem Land, dort, wo die Nahrung wächst.

Hunger ist der größte Skandal der Menschheit – weil er vermeidbar wäre! Unsere Mutter Erde hat das Potenzial, alle Menschen satt zu machen. Seit drei Jahren steigen die Hungerzahlen wieder: heute sind es über 820 Millionen Menschen weltweit. Das sind so viele Menschen wie die USA, Indonesien und Brasilien Einwohner haben.

Die Hauptursache für Hunger: Kriege und Gewalt. Aber – und das möchte ich gleich an zweiter Stelle nennen – auch fehlende Gleichberechtigung der Frauen. Dazu kommen Klimawandel, Dürren, Überschwemmungen, übernutzte Ressourcen, Armut, fehlende Bildung, unfaire Handels- und Konsummuster.

Wir haben das Wissen, die Technologien. Aber es fehlt der Wille, der politische Wille der Regierungen. An all diesen Punkten müssen wir ansetzen. Wir brauchen ein neues Leitbild ländlicher Entwicklung: ressourcenschonend, job-schaffend, gerecht und innovativ. Ich nenne das „Ernte von unten“.

Aber die Herausforderungen sind groß: Mehr Menschen brauchen mehr Nahrung bei weniger Böden. Zu meiner Jugendzeit standen pro Kopf über 4.000 Quadratmeter Boden für Ernährung zur Verfügung; heute sind es nur noch 1.800 Quadratmeter. Jährlich gehen 12 Millionen Hektar fruchtbare Böden verloren – durch Versteppung, Versiegelung, Erosion.

Der Klimawandel bedroht die Landwirtschaft. Die Produktion von Grundnahrungsmitteln könnte um 25 Prozent schrumpfen. Und die Landwirtschaft bedroht das Klima: sie verursacht rund 25 Prozent aller Treibhausgase.

Unser Gastgeber heute, die K+S, arbeitet schon seit dem 19. Jahrhundert daran, Landwirtschaft produktiver zu machen. Heute engagieren Sie sich im Global Compact und bemühen sich um Energieeffizienz, nachhaltige Lieferketten und einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck. Ich freue mich, dass Sie Ihr Know-how für die Welternährung einbringen, zum Beispiel mit diesem Forum, in Partnerschaft mit dem Handelsblatt.

Wir brauchen eine weltweite Agrar-Wende:

1. eine Ressourcen-Revolution: denn wir müssen mehr mit weniger produzieren;

2. eine Job-Revolution: für Zukunftschancen auf dem Land;

3. eine Gerechtigkeits-Revolution: im Handel, für Frauen, gegen Land-Grabbing; und

4. brauchen wir eine Ernährungs-Revolution für zukunftsfähigen Konsum.

1. Die Ressourcen-Revolution

Bis 2050 müssen Erträge um 50 bis 70 Prozent steigen, um alle Menschen zu ernähren. Noch schafft ein Landwirt in Afrika nur 1,5 Tonnen Getreide pro Hektar. In Deutschland sind es auf vergleichbaren Böden bis zu acht Tonnen!

Wir wollen Produktivität steigern, aber nachhaltig! Die afrikanische Landwirtschaft könnte Quantensprünge machen: in einem Jahrzehnt statt wie bei uns in 100 Jahren! Wir können Erträge vervielfachen. Aber nicht wie bisher mit mehr Flächen, mehr Dünger, Wasser, Konzentration.

Der Dünger von heute heißt Innovation und Bildung! Da setzen unsere 15 Grünen Zentren an: Die Zielgruppe sind Kleinbäuerinnen und -bauern. Denn 80 Prozent der Ernährung in Entwicklungsländern liegen in den Händen von Kleinbauern. In diesen Grünen Innovationszentren verbreiten wir Wissen und vernetzen: Wissen zu lokal und klima-angepassten Sorten, zu Anbau, der Böden schont und vor Erosion schützt, der Wasser und Dünger spart, zu klima-intelligenter Tierhaltung. Wir fördern Wissen und Weiterbildung zu Konservierung, Verarbeitung oder Vermarktung. Damit erwirtschaften die Bäuerinnen und Bauern mehr Erträge und haben mehr Einkommen. Wir beraten zur Entwicklung von Genossenschaften – sozusagen „Raiffeisen für Afrika“ – und zur gemeinsamen Erschließung von Märkten. Und schließlich unterstützen wir bei einer angepassten Mechanisierung, die genau auf die Bedürfnisse der kleinbäuerlichen Betriebe zugeschnitten ist.

Oft sind Innovationen einfach: Wer Reissetzlinge in Reihe pflanzt, spart Saatgut und Wasser – bei mehr Ertrag. Aber auch neue Technik und neue Sorten kommen zum Einsatz. In Benin haben wir eine neue Reissorte aus Asien getestet, die genau zu den Böden und Wasserressourcen vor Ort passt. Sie bringt den doppelten Ertrag. In Ghana haben wir Solartrockner verbreitet, so dass weniger Reis verschimmelt. Wir fördern die Nutzung von Apps und SMS für Wettervorhersagen, Marktpreise, Düngeempfehlungen.

Wir unterstützen beim Aufbau einer klimafesten, nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft. Dafür richten wir in Afrika ein Wissenszentrum für Ökolandbau ein.

2. Die Job-Revolution

Afrikas Bevölkerung wächst bis 2050 auf 2,5 Milliarden Menschen. Der größte Teil von ihnen wird auf dem Land geboren werden. Über die Hälfte der jungen Afrikaner würde gern auf dem Land bleiben, aber nicht wie ihre Eltern als ärmliche Selbstversorgungs-Landwirte. Sie wollen nicht im 19. Jahrhundert stecken bleiben.

Ein moderner Agrarsektor schafft zwei bis vier Mal mehr Jobs als andere Branchen; gibt Millionen Afrikanern in ländlichen Gebieten Beschäftigung und Einkommen. Und verhindert so die Flucht in die Slums. Millionen könnten ein Auskommen haben, wenn es mehr Verarbeitungsindustrie gäbe. Solange Kaffee, Kakao, Baumwolle nur als Rohprodukte exportiert werden, machen Kleinbauern die Arbeit, andere den Profit. Ganz Afrika erlöste zuletzt für seinen Roh-Kaffee knapp zwei Milliarden US-Dollar. Allein deutsche Unternehmen verdienen mit ihrem Röstkaffee schon mehr als die Hälfte dieser Summe (1,2 Milliarden Dollar).

Die Ernährungswirtschaft in Afrika könnte ihren Umsatz verdreifachen. Das ist ein Riesenmarkt! Deshalb bauen wir Innovationszentren aus zu Zentren für zukunftsfähige Landwirtschaft, für lokale Verarbeitung, für zukunftsträchtige Jobs auf dem Land.

Afrika kann sich selbst ernähren – Afrika musssich selbst ernähren! Da stehen zuerst die Regierungen vor Ort in der Pflicht. Sie müssen mehr in den Agrarsektor investieren! Wir unterstützen das mit unseren Programmen für mehr Wertschöpfung. In Tunesien zum Beispiel fördern wir die Kooperation der Kleinbauern mit der größten Molkerei vor Ort. Festpreise sichern den Absatz, so dass die Bauern investieren können: in Zuchtvieh, besseres Futter, Kühltechnik.

Eine Erfolgsgeschichte sind auch Cashew-Nüsse: Durch Weiterbildung konnten Bauern Ertrag und Qualität steigern. Lokale Unternehmen verarbeiten heute 30 Mal mehr Cashews als vor zehn Jahren und haben 500.000 Arbeitsplätze geschaffen.

Es gibt auch noch Potenzial beim Land. 600 Millionen Hektar Land in Afrika liegen noch brach und könnten zu Ackerland werden. Das ist noch einmal fast die gesamte aktuelle Getreide-Anbaufläche der Welt!

3. Eine Welt ohne Hunger braucht Gerechtigkeit.

Hunger ist weiblich. Zwei Drittel der Hungernden sind Frauen und Mädchen. Wenn Frauen gleiche Rechte hätten, wäre Landwirtschaft in Entwicklungsländern 20-30 Prozent produktiver! Zu oft haben sie kein Recht am Land, keinen Zugang zu Saatgut, Technik, Krediten.

Landwirtschaft braucht sichere Landrechte. Denn wer investiert, wenn er nicht weiß, was mit seinem Land in Zukunft passiert? Das gilt für alle Bauern. Wir brauchen ein globales Land-Kataster und wir müssen Land-Grabbing einschränken. Denn das geht zulasten von Kleinbauern. 50 Millionen Hektar Ackerflächen haben Konzerne in den letzten Jahren gekauft. Für die Einheimischen ist das Konkurrenz um Böden und Wasser, um ihre Existenzgrundlagen. Da sind vor allem Regierungen in der Pflicht. Das BMZ unterstützt Landrechtsexperten. Zum Beispiel bauen wir ein afrikanisches Exzellenzzentrum für Landpolitik auf.

Aber auch der globale Agrarhandel muss fairer werden: Deutschland will Vorreiter sein für fairen Handel mit Afrika – so der Koalitionsvertrag. Ich setze mich ein für verbindliche Sozial-, Menschenrechts- und Umwelt-Standards. Agrarhandel muss entwicklungsfreundlich sein, Handelsregeln fair und transparent. Afrikanische Agrarprodukte schaffen es oft nicht auf unsere Märkte – aufgrund von Zöllen, Qualitätsstandards, Einfuhrquoten. So schafft Handel keine Jobs vor Ort! Wir unterstützen mit Aid for Trade bei der Erreichung von Standards und bei der Senkung von Handelskosten.

Aber wir müssen auch unser Verhalten als Konsumenten überprüfen. Wir müssen bewusster einkaufen! Zehn Kilo Schokolade pro Jahr essen wir durchschnittlich in Deutschland. Eine Tafel kostet bei uns 49 Cent, oder vielleicht einen Euro. Aber beim Kakaobauern kommen nur drei Cent an. Mit dem Kakaoforum ändern wir das. Heute ist schon 55 Prozent des Kakaos in deutschen Supermärkten fair, das Ziel sind 100 Prozent.

4. Wir brauchen viertens eine Ernährung 2.0.

Manche haben zu wenig, andere zu viel. Zwei Milliarden Menschen weltweit bekommen genug Kalorien, aber zu wenig Nährstoffe. Zwei Milliarden Menschen weltweit sind übergewichtig – davon die Hälfte in Entwicklungs- und Schwellenländern. Ein gewaltiges Problem!

Das Konsumverhalten ändert sich. Weltweit hat sich der Fleischkonsum seit 1980 verdoppelt. Das hat Folgen, gesundheitlich wie ökologisch. Übergewicht ist gesundheitsschädigend, Krankheiten wie Diabetes sind heute auch in Entwicklungsländern verbreitet.

Die ökologische Folge: Fleisch frisst Land. Viehzucht beansprucht 80 Prozent der globalen Nutzfläche, produziert aber nicht einmal 20 Prozent der Kalorien und Nährstoffe. Regenwälder werden abgeholzt für riesige Soja-Plantagen als Futtermittel. Das heißt, wir müssen uns auch bewusster ernähren!

Auch in der Ernährung gibt es Alternativen. Die Ernährungs-Innovationen sind schon da: zum Beispiel Algen. Sie sind proteinreich und haben mehr Vitamine als die meisten Nutzpflanzen vom Acker. Noch dazu brauchen sie keine zusätzlichen Landwirtschaftsflächen. Oder Insekten: sie sind Super-Food! Sie enthalten ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und Mineralstoffe.

Ernährung im 21. Jahrhundert braucht neue Lösungen und neue Partner. Wir arbeiten schon mit ganz vielen zusammen: Unternehmen können Innovationsmotoren für angepasste Lösungen für Millionen von Kleinbauern weltweit sein! Die Wissenschaft bietet moderne Methoden und neue Erkenntnisse. Und die Zivilgesellschaft, die Kirchen, die Verbände machen schon lange herausragende Arbeit vor Ort.

Eine Welt ohne Hunger ist möglich. Mit einer modernen Landwirtschaft, die natürliche Ressourcen und Klima schützt, mit Jobs für mehr Wertschöpfung vor Ort, mit fairen Marktchancen und fairen Lieferketten und mit zukunftsfähigen Ernährungsmustern.

Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir müssen nur endlich umsetzen!