„Es braut sich ein Sturm zusammen“

Der Globale Süden erlebt mehrere Krisen gleichzeitig. Aber was tun? Bundesministerin Svenja Schulze und Weltbank-Chef Ajay Banga über neue Formen der globalen Hilfe

Bundesministerin Svenja Schulze und Weltbank-Chef Ajay Banga

Bundesministerin Svenja Schulze und Weltbank-Chef Ajay Banga

Bundesministerin Svenja Schulze und Weltbank-Chef Ajay Banga 

Interview von Marcus Gatzke und Petra Pinzler, erschienen in ZEIT ONLINE (Externer Link) am 2. Dezember 2023, die englische Version des Interviews finden Sie hier.

Ajay Banga ist seit Juni 2023 Chef der Weltbank. Svenja Schulze (SPD) ist Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

ZEIT ONLINE: Herr Banga, die Weltbank will nicht mehr nur die weltweite Armut bekämpfen. Sie soll nun ebenfalls dafür sorgen, dass die Welt ein „lebenswerter Ort“ bleibt. Was bedeutet das konkret?

Ajay Banga: Die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit wird auch weiter eines unserer zentralen Anliegen bleiben. Aber wir werden damit nicht erfolgreich sein, wenn wir nicht gleichzeitig andere Probleme sehr viel ernster nehmen, als wir es bislang getan haben. Wer Ungleichheit verringern will, muss gleichzeitig gegen Pandemien kämpfen und das Klima schützen, muss lokale Konflikte und die Ernährungssicherheit in einem Land im Blick haben.

ZEIT ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?

Banga: Wenn Sie in einem Land im Globalen Süden leben, dann erleben Sie immer mehrere Krisen gleichzeitig. Dürren sorgen dafür, dass weniger Getreide angebaut wird. Die lokalen Bauern müssen ihre Herden verkleinern und Arbeiter entlassen, eventuell sogar die Kinder aus der Schule nehmen, damit sie auf den Feldern mithelfen. Und damit wird all unsere Anstrengung hinfällig, die Kinder weg vom Acker und in die Schule zu bekommen. Klimawandel und Ungleichheit hängen sehr eng zusammen.

ZEIT ONLINE: Frau Schulze, Sie sind eine der Gouverneurinnen der Weltbank, also die „Chefin“ von Herrn Banga. Wofür braucht die Welt die Weltbank?

Svenja Schulze: Ein Beispiel: Ich habe gerade mit dem Wirtschaftsminister aus Mauretanien gesprochen. Er hat mir gesagt, sie wollen nicht nur das Geld der Weltbank, sondern auch deren Expertise darüber, wie man ein Land gut entwickelt, wie man das Klima schützt.

ZEIT ONLINE: Früher hätte die Weltbank einem armen Land als Lösung allein mehr Wirtschaftswachstum empfohlen …

Banga: … und heute wissen wir, dass wir im Kampf gegen Ungleichheit auch die Klimakrise im Blick haben müssen. Weil alles mit allem zusammenhängt.

ZEIT ONLINE: Kann sich die Weltbank um all das gleichermaßen kümmern?

Schulze: Wer Fortschritt will, muss die Probleme alle gleichzeitig angehen. Die Bank muss sich verändern und einen breiten Ansatz verfolgen, wie ihn Ajay Banga gerade beschrieben hat. Die neue Strategie muss in die DNA der Institution übergehen, es muss Teil der Kreditvergabe werden und was für die Bank als Erfolg gilt, muss neu definiert werden.

ZEIT ONLINE: Ist die Bank dafür wirklich die beste Organisation? Die Erfolgsbilanz ist nicht gerade gut: Sie sollte die Armut bekämpfen, doch die steigt weltweit.

Banga: Das stimmt so nicht. Die Zahl der Armen ist in den vergangenen drei Jahrzehnten weltweit zurückgegangen – bis Corona kam. Und das zeigt: Durch die verschiedenen Krisen braut sich ein Sturm zusammen, gegen den wir uns wappnen müssen. Und dafür brauchen wir einen Ort, an dem das Wissen dazu gesammelt und weitergegeben wird. Das wollen wir sein, eine Wissensbank und eine Bank, die Geld bereitstellt.

ZEIT ONLINE: Braucht die Weltbank für ihre neue Ausrichtung nicht viel mehr Geld?

Schulze: Wir brauchen eine bessere und dann eine größere Bank. Deutschland unterstützt das mit 300 Millionen Euro an sogenanntem hybriden Kapital. Mit dieser Sicherheit im Rücken kann die Weltbank dann 2,4 Milliarden Euro an neuen Krediten vergeben.

ZEIT ONLINE: Wäre es nicht viel sinnvoller, die Beiträge aller Mitglieder zu erhöhen, um so das Eigenkapital der Weltbank dauerhaft deutlich zu erhöhen?

Schulze: Ja. Sich darauf zu verständigen, braucht aber erfahrungsgemäß sehr viel Zeit, die wir gerade nicht haben. Deswegen müssen wir jetzt tun, was immer die Bank stärkt. Dazu gehört auch, privates Kapital zu mobilisieren, um armen Ländern zu helfen.

ZEIT ONLINE: Private Investoren wollen Rendite sehen. Die bekommen sie aber nicht unbedingt, wenn die Weltbank in Schulen investiert.

Banga: Natürlich kann man nicht alles mit privatem Kapital finanzieren. Aber nehmen Sie beispielsweise die Solar- oder Windkraftwerke. Beide sind heute deutlich billiger, als ein fossiles Kraftwerk zu bauen. Das war vor fünf Jahren noch anders. Trotzdem halten sich viele Investoren zurück, weil es in vielen Entwicklungsländern Risiken gibt, die gar nichts mit der ökonomischen Rendite ihrer Investition zu tun haben. Sie fürchten beispielsweise, dass die Regierung plötzlich ihre Regeln ändert oder ihre Auflagen und so die Investition wertlos macht.

ZEIT ONLINE: Und das kann die Weltbank ändern?

Banga: Auf jeden Fall. In Indien haben wir beispielsweise mit der Regierung einen Zehnjahresplan zum Ausbau der erneuerbaren Energien entwickelt. Der hat den Investoren die notwendige Sicherheit gegeben und das wiederum hat dazu geführt, dass das Ausbauziel für 2030 schon 2023 erreicht wird.

Schulze: Lassen Sie mich noch ein anderes Beispiel geben: Wir wollen, dass Länder schneller aus der Kohle aussteigen. Wenn sie das aber tun, dann brauchen sie eine soziale Absicherung für die Leute, die ihren Job verlieren. Sie müssen für neue, grüne Jobs und die nötigen Umschulungen sorgen. Dabei kann das deutsche Entwicklungsministerium helfen, aber auch die Weltbank mit ihrem Wissen. Wir haben in der Vergangenheit Vertrauen verloren. Solche Projekte helfen, es wieder aufzubauen.

ZEIT ONLINE: Das „Wir“ meint die Industrieländer, weil unser Reichtum auf der Ausbeutung der armen Länder beruht?

Schulze: Ja, es geht um den Westen und die Industrieländer. Und tatsächlich klingt der Vorwurf, den ich von vielen Regierungen aus dem Süden höre, genauso oder so ähnlich.

ZEIT ONLINE: Herr Banga, Sie haben mehrfach Verständnis für die Frustration des Globalen Südens geäußert. Neben Ihnen sitzt ein Regierungsmitglied eines reichen Landes. Welche Erwartungen haben Sie an Deutschland?

Banga: Wir müssen die Anliegen des Globalen Südens verstehen. Viele ärmere Länder meinen, dass sie ein Recht auf ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum haben, weil der reiche Norden genau das getan hat. Und jetzt haben sie das Gefühl, dass sie das nicht mehr dürfen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Wachstumspfad ändern können.

ZEIT ONLINE: Auf wie viel Verständnis stoßen Sie da? Bekommen Sie nicht oft einfach zu hören: Gebt uns lieber Kredite mit guten Konditionen und gut ist?

Banga: Nein, lassen Sie mich das am Beispiel von Sambia erklären. Dort sprechen wir gerade mit dem Präsidenten über seine Prioritäten für sein Land. Vielleicht will er Seltene Erden fördern, dann haben wir Ideen, wie er sie nicht nur ausbeutet und verschifft, sondern wie ein Teil der Wertschöpfung im Land bleibt und die Umwelt nicht zu sehr darunter leidet. Vielleicht will er auch den Tourismus im Land stärken, dann können wir dabei helfen und ihm erklären, wie eine nachhaltige Strategie aussehen könnte. Aber die letztliche Entscheidung liegt beim Land selbst, wir werden ihn zu nichts zwingen.

Schulze: Hier kommt die Reform der Weltbank zum Tragen: Anders als früher berechnet die Bank künftig nicht nur die Rendite, sondern auch den möglichen CO₂-Fußabdruck von Investitionen.

ZEIT ONLINE: Schon heute sind viele Länder hoch verschuldet, gleichzeitig steigen die Zinsen und das Wirtschaftswachstum ist eher schwach. Wie sollen sie da noch das Klima schützen?

Banga: Tatsächlich hat die Pandemie viele Entwicklungsländer hart getroffen. Viele sind hoch verschuldet, sie haben vor der Corona-Pandemie Kredite aufgenommen und müssen die jetzt zurückzahlen. Und das in einer Situation, in der der Dollar und der Euro im Vergleich zu ihren nationalen Währungen stark aufgewertet haben. Besonders schlimm ist die Lage in Ghana, Äthiopien, dem Tschad und Sambia. Sambia schuldet gerade mit internationaler Unterstützung um, als Nächstes kommt Ghana. Wir arbeiten daran, dass sich die großen Gläubiger im sogenannten Paris Club, der IWF und wir uns auf eine gemeinsame Strategie einigen. Aber das geht noch viel zu langsam.

ZEIT ONLINE: Frau Schulze, ist das alles nicht Aufgabe der klassischen Entwicklungspolitik? Wofür braucht man dafür eine Bank?

Schulze: Was Deutschland für Entwicklung gibt, beträgt gerade mal 0,8 Prozent unseres Bruttosozialprodukts. Damit sind wir im internationalen Vergleich gut, aber die Welt kann man damit nicht retten. Und selbst wenn alle Länder der Welt so viel geben würden, wäre es nicht genug. Eine Bank kann aus wenig Geld sehr viel mehr machen als wir.

Banga: Wenn ich einen Dollar bekomme, kann ich vier verleihen. Der Multiplikatoreffekt ist enorm. Und dann gibt es noch die Möglichkeit, zusätzlich private Kredite zu ermöglichen – so wie ich es vorhin beschrieben habe.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle nimmt China dabei ein? Viele arme Länder sind hoch verschuldet, weil die chinesische Regierung ihnen für Infrastrukturprojekte Kredite geradezu aufgedrängt hat.

Schulze: Ohne China wird es keine Lösung der Schuldenkrise geben.

ZEIT ONLINE: Wie offen können Sie mit der chinesischen Regierung darüber reden und sie zu einem Verzicht auf Rückzahlung drängen?

Banga: Im Fall von Sambia hat China geholfen. Grundsätzlich ist China ein konstruktives Mitglied der Weltbank, das sich engagiert und einen Beitrag leistet. Wir profitieren von seinem Wissen und seiner Entwicklungserfahrung, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Wachstumsschäden durch Mangelernährung—da greifen wir die Erfolge in Peru, Indonesien und China auf und setzen sie anderswo ein.

ZEIT ONLINE: Neben China gibt es noch eine Vielzahl weiterer Konflikte auf der Welt. Die geopolitische Lage war selten zuvor so fragil. Wie stark erschwert das die Arbeit der Weltbank?

Banga: Natürlich macht es unsere Arbeit nicht leichter. Aber wir sind ja nicht da, um in konkreten Konflikten zu intervenieren. Wir wurden gegründet, um langfristig zu helfen. Wir helfen beim Wiederaufbau. Wir stärken die Ökonomie eines Landes und seine sozialen Netzwerke. Ich habe 25 Aufsichtsratsmitglieder. Wenn die sich treffen, dann kommen da 25 verschiedene Weltsichten aufeinander. Aber wenn es dann um konkrete Fragen geht, dann einigen sie sich in sieben von zehn Fällen. Es gibt nicht mehr viele Orte, in denen so viel Brücken gebaut werden. Hier funktioniert der Multilateralismus noch.

ZEIT ONLINE: Die Weltbank soll nun auch noch einen neuen Fonds verwalten, der auf der Klimakonferenz geschaffen wurde. Mit dem soll Entwicklungsländern geholfen werden, die besonders unter der Klimakrise leiden. Weil ein Hurrikan sie getroffen hat oder eine Flut. Es gibt die Kritik, dass die Bank, wenn sie das Geld verwaltet, zu langsam, zu teuer und zu undurchsichtig sein wird.

Banga: Erstens sind wir nicht teuer, auch wenn das manche Leute behaupten. Zweitens werden nicht wir, sondern die Aufsichtsräte dieses neuen Fonds entscheiden, wie das Geld ausgegeben wird. Und der wird sich aus den Geldgebern und den Empfängern zusammensetzen. Wir sind nur das Instrument …

Schulze: … und das ist gut so. Bei dem Thema zählt wieder das Tempo. Wenn wir die komplette Infrastruktur für einen solchen Fall neu aufbauen müssten, würde das Jahre dauern. Dadurch, dass die Bank den Fonds verwaltet, können wir schnell Geld einnehmen und sind für die nächsten Klimaschocks besser gewappnet.