Passanten im Basar von Tunis

Politische Situation Der fragile Transitionsprozess seit 2011

Die Revolution von 2011 hat Tunesien die Möglichkeit eröffnet, einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Doch ein instabiles Parteiensystem, Kämpfe um die Machtverteilung zwischen Präsident, Regierung und Parlament, Defizite beim Aufbau staatlicher Einrichtungen, eine angespannte Sicherheitslage und eine anhaltende Wirtschaftskrise bilden Risiken für den friedlichen Wandel des Landes.

In den vergangenen Jahren führten häufige Regierungswechsel dazu, dass wichtige Entscheidungen verschoben wurden. Notwendige wirtschaftspolitische und soziale Reformen werden nur schleppend umgesetzt.

Im Juli 2021 spitzte sich die politische Lage zu: Nach landesweiten Protesten gegen die Politik und das Corona-Krisenmanagement der Regierung übernahm Staatspräsident Saied per Dekret die Regierungsgeschäfte und das Amt des Generalstaatsanwalts. Er suspendierte das Parlament und regierte fortan auf Grundlage von Sonderbefugnissen.

Ende Juli 2022 wurde per Referendum eine neue Verfassung eingeführt, die den Übergang von einem parlamentarischen zu einem hyper-präsidentiellen Regierungssystem samt weiterer Entmachtung des Parlaments beschleunigt hat. Seitdem befindet sich das Land im Umbruch. Eine Vorhersage zur Zukunft des Transitionsprozesses in Tunesien ist aktuell schwer möglich, im Herbst 2024 sind Präsidentschaftswahlen geplant.


Hohe Staatsverschuldung

Eine besondere Herausforderung stellt die angespannte Haushaltslage dar. Bereits vor der Corona-Pandemie hatte die tunesische Staatsverschuldung besorgniserregende Ausmaße angenommen. Mehrausgaben im Zuge der Corona-Krise (unter anderem Sozialhilfen und Unterstützungsprogramme für die Wirtschaft) sowie Steuerrückgänge und ein schlechtes Ausgabenmanagement ließen die Staatsverschuldung auf über 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen. Ein kritischer Ausgabenposten sind die Gehälter im öffentlichen Dienst, die etwa 40 Prozent des Staatshaushalts ausmachen.

Ausnahmezustand

Seit 2015, als mehrere terroristische Anschläge das Land erschütterten, gilt in Tunesien der Ausnahmezustand. Durch ihn werden die Befugnisse der Sicherheitskräfte erweitert und Eingriffe in Grundrechte, etwa die Versammlungsfreiheit, ermöglicht. Aufgrund des drohenden Zusammenbruchs des Gesundheitssystems infolge der Corona-Pandemie verlängerte Staatspräsident Saied den Ausnahmezustand bis Dezember 2024.

Hintergrund: Politischer Neuanfang 2011

Nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956 wurde Tunesien mehr als fünf Jahrzehnte lang autoritär regiert: 1957 bis 1987 von Habib Bourguiba und anschließend von Zine El Abidine Ben Ali.

Im Winter 2010/11 kam es zu massiven Protesten gegen das korrupte Regime, die soziale Ungleichheit und die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Im Januar 2011 verließ Präsident Ben Ali mit seiner Familie das Land, er starb 2019 im Exil in Saudi-Arabien.

Nach dem Sturz des langjährigen Machthabers sind zunächst wichtige Schritte auf dem Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat erfolgt: Sowohl die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung 2011 als auch die ersten Kommunalwahlen 2018 und die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2014 und 2019 wurden von internationalen Beobachtern als frei, fair und transparent bezeichnet. 2014 wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Die zuvor stark eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit ist inzwischen weitgehend gewährleistet.

Zahlreiche Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft (Lexikon-Eintrag zum Begriff aufrufen) haben sich neu gegründet.

Die zunehmenden Autokratisierungstendenzen unter dem amtierenden Staatspräsidenten Kais Saied gefährden jedoch zunehmend die demokratischen Errungenschaften in Tunesien. Das neue Wahlgesetz von September 2022 beendet die parteienbasierte politische Repräsentation im Parlament durch ein listenloses Mehrheitswahlsystem. Viele große Parteien haben die letzte Wahl am 17. Dezember 2022 boykottiert, an der historisch niedrige elf Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen. Die Wahlbeteiligung bei den Lokalwahlen im Dezember 2023 war mit 12 Prozent ebenfalls sehr niedrig. Aufgrund der nach neuer Verfassung geringen Gestaltungsmacht und Kontrollfunktion wird das Parlament zukünftig wenig einflussreich sein.

Stand: 15.04.2024