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Fragile Staatlichkeit – eine Herausforderung für die Entwicklungspolitik
International gibt es keine einheitliche Definition für fragile Staatlichkeit. In den vergangenen Jahren wurden jedoch in verschiedenen Dokumenten, Arbeitsgruppen, Netzwerken, internationalen Organisationen und Konferenzen Indikatoren festgelegt, die auf fragile Staatlichkeit hinweisen. Und es wurden Prinzipien für das internationale Engagement in fragilen Staaten aufgestellt.
Deutsches Engagement in fragilen Staaten
Seit 2001 bestimmt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Ländergruppe der fragilen, von Konflikt und Gewalt betroffenen Länder im Rahmen einer jährlichen Bewertung zur Krisenfrühwarnung. Ziel dieses Bewertungsverfahren ist es, längerfristige Trends aufzuzeigen und frühzeitig jene Länder zu identifizieren, in denen Bedarf für Krisenprävention besteht.
2018 stufte das Krisenfrühwarnsystem 65 der 94 ausgewerteten Länder als fragil ein: Bei 25 Ländern wurde ein erhöhtes, bei 40 ein akutes Eskalationspotenzial festgestellt.
Diese Zahlen verdeutlichen, wie wichtig es ist, vorbeugend zu handeln und die Entwicklungszusammenarbeit konsequent auf Friedensförderung auszurichten. Das deutsche Engagement ist dabei grundsätzlich in die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft eingebettet. Die Bundesrepublik beteiligt sich auf internationaler Ebene intensiv an der Ausarbeitung von Strategien zum Engagement in fragilen Staaten, unter anderem im Rahmen der Europäischen Union und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Ressortübergreifende Leitlinien der Bundesregierung
Im Juni 2017 hat die Bundesregierung unter dem Titel Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern (Externer Link) neue Leitlinien für die Zusammenarbeit mit fragilen Staaten beschlossen. Das Dokument löst den Aktionsplan von 2004 und die Leitlinien Fragile Staaten von 2012 ab und führt sie gemeinsam fort. Die in den vergangenen Jahren geschaffenen ressortübergreifenden Gremien bleiben bestehen. Dazu zählen auch die sogenannten Task Forces – länderspezifische Arbeitsgruppen, die gebildet werden, um in Krisenfällen Fachwissen der verschiedenen Ministerien zu bündeln und schnell auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können.
Die Leitlinien definieren staatliche Fragilität anhand von drei Dimensionen: die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die Fähigkeit zur Erbringung grundlegender staatlicher Dienstleistungen sowie die Akzeptanz des staatlichen Herrschaftsanspruchs durch das Volk (Legitimität). Häufig bestehen in allen drei Bereichen Defizite, die sich in ihren negativen Auswirkungen gegenseitig beeinflussen und zum Teil verstärken.
Es lassen sich sechs grundlegende Fragilitätsprofile unterscheiden:
- „zerfallende“ oder dysfunktionale Staaten mit erheblichen Schwächen in allen Dimensionen, häufig geprägt durch gewaltsame Auseinandersetzungen bis hin zu Bürgerkriegen;
- „schwache“ Staaten ohne Gewaltkonflikte, aber mit geringer Leistungsfähigkeit der staatlichen Institutionen, beispielsweise bei der Erbringung von Basisdienstleistungen;
- „herausgeforderte“ Staaten, die relativ handlungsfähig und legitim sind, aber erheblichen Sicherheitsbedrohungen (zum Beispiel durch lokale Milizen) ausgesetzt sind;
- „illegitime“ (und häufig repressive) Staaten, deren politische Ordnung trotz oder gerade wegen umfangreicher staatlicher Kontrolle von weiten Bevölkerungsteilen nicht als legitim akzeptiert ist und die daher nur scheinbar stabil sind;
- mäßig funktionierende Staaten mit mittleren Ausprägungen von Fragilität in allen Dimensionen, wobei die Herausforderungen vor allem beim Gewaltmonopol (Bedrohungen beispielsweise durch Terrorismus oder organisierte Kriminalität) und bei der Leistungsfähigkeit liegen;
- gut „funktionierende“ Staaten mit hoher Legitimität, gesichertem Gewaltmonopol und ausgeprägter Fähigkeit, Basisdienstleistungen zu erbringen.
Länderspezifische Strategien für das Engagement in fragilen Staaten
Die Wahl der entwicklungspolitischen Einsatzbereiche, der möglichen Partner und der eingesetzten Instrumente muss für jedes Land individuell festgelegt werden. Dabei muss der lokale Kontext, die Tradition und die Kultur besonders berücksichtigt werden. Daher werden stets lokale Organisationen und Verantwortliche in den Reformprozess eingebunden. Denn letztlich soll die Bevölkerung selbst entscheiden und Verantwortung übernehmen.
Ist eine Regierung nicht dialogbereit, muss sich das deutsche Engagement oft auf die humanitäre Hilfe beschränken, etwa durch Bereitstellung von Lebensmitteln über internationale Hilfsorganisationen. Zeigt sich eine Regierung jedoch reformwillig, können Vorhaben der Staatsentwicklung umgesetzt werden. Dazu gehören Programme, die die demokratische Beteiligung der Bevölkerung stärken, Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung vermitteln, zum Aufbau einer transparenten und effizienten Verwaltung beitragen oder die zivile Kontrolle des Sicherheitssektors fördern.
In der Zusammenarbeit mit fragilen Staaten ist der Zivile Friedensdienst (ZFD) ein zentrales Instrument der deutschen Friedenspolitik. Ein Arbeitsschwerpunkt der deutschen Friedensfachkräfte ist die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft vor Ort. Je instabiler die Ausgangslage, desto flexibler muss die Entwicklungspolitik ihre Instrumente einsetzen und zum Beispiel außerhalb staatlicher Strukturen mit basisnahen Nichtregierungsorganisation und kirchlichen Hilfswerken zusammenarbeiten.
Zusammenarbeit der EU mit fragilen Staaten
Das Scheitern von Staaten betrachtet die Europäische Union als eine der wesentlichen Bedrohungen für ihre Mitgliedsländer.
Im 2017 unterzeichneten neuen europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik Unsere Welt, unsere Würde, unsere Zukunft (Externer Link) haben die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten vereinbart, sich noch stärker darauf zu konzentrieren, fragile und von Konflikten betroffene Länder in ihrer nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen.
Durch eine gemeinsame Programmplanung auf der Grundlage gemeinsamer Konfliktanalysen sollen Kenntnisse und finanzielle Mittel gebündelt werden. Auf diese Weise soll die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit der EU mit fragilen Staaten gesteigert werden.
OECD-Prinzipien für das Engagement in fragilen Staaten
Der Entwicklungsausschuss (Development Assistance Committee, DAC) der OECD hat im Jahr 2005 zehn Prinzipien für ein „gutes internationales Engagement“ in fragilen Staaten (Principles for Good International Engagement in Fragile States and Situations) formuliert. Nach einer Pilotphase wurden sie im April 2007 verabschiedet und sind seitdem eine wichtige Orientierung für die internationale Staatengemeinschaft.
Die zehn Prinzipien lauten:
- Ausgangslagen berücksichtigen
- keine Schäden anrichten (Do-no-harm-Prinzip)
- Fokussierung auf Staatsentwicklung (state building) als zentrales Ziel der Entwicklungszusammenarbeit
- präventive Ausrichtung des Engagements
- Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik
- Förderung von Nicht-Diskriminierung als Grundlage für stabile Gesellschaften
- Ausrichtung an lokalen Prioritäten
- Koordinierungsmechanismen für internationale Akteure
- schnelles und langfristiges Engagement
- Vermeidung vom Ausschluss ganzer Staaten von der Zusammenarbeit („aid orphans“)
Auf Grundlage dieser Prinzipien engagiert sich das BMZ als Mitglied des „International Network on Conflict and Fragility“ (INCAF (Externer Link)), seit Januar 2018 teilt es sich den Vorsitz des Netzwerks mit Großbritannien. Das Netzwerk koordiniert die Arbeit des DAC in diesem Themenfeld und erarbeitet Empfehlungen für das internationale Engagement in fragilen Staaten.